Wie man recherchiert



Wenn man heutzutage Rezensionen liest, bekommt man leicht den Eindruck, die wichtigste Fertigkeit eines Schriftstellers sei, gut recherchieren zu können. Daß ein Buch "gut recherchiert" sei, meint jeder Kritiker hervorheben zu müssen, so, als sei das ein tolles Lob - und ohne zu wissen, ob der betreffende Autor das, was er erzählt, nicht schon von Haus aus gewusst (oder einfach erfunden) hat.

Alles Unsinn. Gute Recherche ist ein Qualitätskriterium für einen Journalisten, aber nicht für einen Schriftsteller. Bei einem Roman die Recherche zu loben ist ungefähr so, als lobe man die Rechtschreibung. Beim Schreiben eines Romans ist Recherche einfach eine mehr oder weniger lästige Notwendigkeit.



Wie recherchieren Sie?

Je nachdem, was ich wissen muß. Manche Dinge lassen sich übers Internet rasch und einfach in Erfahrung bringen, andere sucht man dort vergebens. Es war immer der größere Hochgenuß, in die Landesbücherei Stuttgart zu gehen, in den Katalogen zu blättern, in der andächtigen Stille des Lesesaals Notizen aus Büchern zu machen, bestellte Bücher am Schalter abzuholen und bei einem Kaffee in der Cafeteria durchzublättern... Das war besser als Urlaub. 




"Wie wurde eine Baby im Mittelalter gewickelt?" Wo bekommt man solche Informationen her? Gibt es eine Möglichkeit, gezielt nach solchen Antworten zu suchen, oder nimmt man sich ein Buch über das Mittelalter vor und beginnt darin zu stöbern, bis man durch Zufall auf die richtige Antwort trifft?

Das ist eben das Spannende am Recherchieren, daß es keine immer gleiche Vorgehensweise gibt. Sonst würde man es Abfrage nennen, nicht Recherche. Recherchieren ist wie als Privatdetektiv arbeiten: "Wie kommt man an die Information, die man braucht?" ist im Prinzip dasselbe wie "Wer war der Täter? Wo hat sich der Flüchtige versteckt? Wer steckt hinter all dem?" usw. Manchmal reicht ein Blick ins Lexikon. Manchmal einer ins Internet. Manchmal muß man in die Universitätsbücherei fahren und mit der ältesten Bibliothekarin sprechen, um der gesuchten Information auf die Spur zu kommen. Manchmal muß man Leute fragen. Manchmal muß man einen bestimmten Ort besuchen, eine Stadt, ein Museum, eine Fabrik, den Schauplatz eines Verbrechens... Und manchmal stößt man auf Informationen, die man gar nicht gesucht hat, die einen aber viel weiter bringen - das macht die Verfolgungsjagd so aufregend! 




Mal angenommen, Ihr Plot führt Sie unerwartet in einen neuen Bereich, ein neues Fachgebiet, von dem Sie nichts verstehen. Wie machen Sie sich kundig? Was ist für Sie die beste Möglichkeit, sich Hintergrundwissen anzueignen, um für die Story glaubwürdig zu bleiben? Fragen Sie Fachleute/Bekannte, holen Sie sich Fachbücher, Fachzeitschriften, fragen Sie in speziellen Foren nach?

Genau. Wobei der Schwerpunkt auf Fachliteratur liegt, und erst dann frage ich Leute. Wahrscheinlich wär's andersrum manchmal effizienter, aber ich bin nun mal ein schüchterner Typ.


Generell geht der erste Griff zur 'Encyclopaedia Britannica'. Was da nicht drinsteht, ist exotisches Wissen (und meistens so detailliert, daß es wichtig sein kann für einen Roman - Frage z.B. "wie wickelte man im 12. Jahrhundert Babies?" - finden Sie mal ein Nachschlagewerk, in dem sowas steht!!!) und schwierig zu finden. Eine allgemeine Regel habe ich da aber nicht. Antwort auf die Frage, wie ich rausfinde, was ich wissen will, ist also: mühsam! 




Ich schreibe gerne und es macht mir großen Spaß, aber ich habe gehörige Angst vor Abschnitten in denen man wissenschaftliche Dinge behandeln muß. Wie recherchieren Sie komplexe wissenschaftliche Themen, die für ein Projekt unerlässlich sind? Nicht alle Antworten liefert das Internet oder eine Bücherei, oder doch?

Nicht alle, aber viele. Wobei die Gebiete, die abgedeckt werden, unterschiedlich sind: Büchereien sind Anlaufstelle für grundlegende, ausführliche, "zeitlose" Information, während im Internet alles eine Spur schräger, unzuverlässiger, willkürlicher, aber auch aktueller ist. 


Was sich so nicht klären läßt, dafür muß man mit Fachleuten reden. Die meisten Menschen sind sehr auskunftsbereit, wenn man sie zu ihrem Fachgebiet befragt, und sie aufzufinden läßt sich wiederum über Internet heutzutage leichter bewerkstelligen. 


Ansonsten: Wie recherchiert man? Antwort: So gut man es kann. Ich habe da - außer viel zu lesen, viel darüber nachzudenken und zu versuchen, es zu verstehen, keine besondere Methode. 




Im mit Wissen gespickten "Jesus Video" habe ich keine Danksagungen gefunden. Falls die Frage nicht zu "intim" ist :-) - woher hatten Sie all die Informationen (über Ausgrabungen, Zeitmaschinen, die Stadt Jerusalem - na gut, Sie sind wohl dort gewesen - Judentum, Buchstaben-auf-altem-Papier-Lesbarmachung ... etc.)

Württembergische Landesbibliothek. Stadtbibliothek Stuttgart. Internet. Punkt. 




Wenn Sie Informationen aus erster Hand benötigen, wie gehen Sie dann vor? Rufen Sie z.B. einen Professor oder Fachgebietsexperten an, sagen "Hallo, mein Name ist Andreas Eschbach, Sie kennen mich vielleicht, ich bin Schrifsteller und recherchiere momentan für ein neues Buch, bei dem es um ... geht, können wir uns mal irgendwo treffen?" oder so ähnlich?

So ähnlich. Zuerst mache ich meine Hausaufgaben, denn wenn ich eine Kapazität auf einem Gebiet wäre und jemand käme mir mit einer Frage, auf die er die Antwort in jedem Schulbuch nachlesen kann, dann wäre er bei mir unten durch. Also: Erst in die Bücherei und lesen, lesen, lesen. Bibliothekare fragen. Und erst wenn ich eine Antwort nirgends finde, kommt die persönliche Belästigung, meist per Email. 



Wenn man noch keinen Namen hat, kostet einen das schier unüberwindliche Überwindung.

Fehl am Platze; Sie könnten der berühmteste Autor der Welt sein und immer noch auf einen Fachmann für, sagen wir, Quantenphysik treffen, der nie von Ihnen gehört hat. Oder von Stephen King. ("Ah, doch. Das ist ein Schauspieler, nicht wahr?") 


Grundsätzlich sind die meisten Menschen höchst begeistert, über ihr Fachgebiet sprechen zu können, keine Sorge. 




Gehört es sich / oder MUSS man solchen "Beratern" dann Provisionen zahlen oder sie anderweitig finanziell vergüten - was entspricht einer angemessenen Entschädigung? Eine Erwähnung in der Danksagung?

Ich biete immer eine Erwähnung in den Danksagungen und ein signiertes Exemplar an, und damit waren immer alle höchst zufrieden. 




Geht es unterm Strich darum, zu versuchen, den Leser "bloß" Glauben zu machen, man kenne sich aus, indem man eben Wissen durchblicken lässt, oder stecken tatsächlich fundierte Kenntnisse dahinter, die man etwa auch noch Jahre nach dem Schreiben des Buches abrufen könnte?

Es geht darum, die Geschichte tief und rund und glaubwürdig zu machen. Es ist wichtiger, die Details am RANDE zu recherchieren - z.B. wenn in Irland ein Mord passiert, wie heißt die Polizeieinheit, die sich damit befaßt? Welche Dienstgrade gibt es da? -; wie Zeitreisen und Cyborgs funktionieren, da darf sich dagegen die Phantasie des Autors austoben. 




Verzichten Sie notfalls auf Logik, Realitätsbezug usw.?

Also, auf Logik im strengen Sinne darf man nicht verzichten. Der Bezug zur faktischen Wirklichkeit ist in Romanen allerdings leicht zu entbehren. Notfalls erfindet man eben Gebäude, Straßen, Klöster, Sagen usw. - so, wie es einem in den Kram paßt. Ein Schriftsteller ist schließlich kein Journalist. 



Ich kann jeweils nur sehr rudimentäre Recherche zu Beginn eines neuen Projektes betreiben. Oftmals stosse ich erst während des Schreiben auf gewisse Fragen, die ich klären muss. Wie gehen Sie eigentlich vor? Ignorieren Sie die Frage, bis Sie mit dem Schreibschub fertig sind und beantworten es danach? Wenn ja, wie gehen Sie dann damit um, falls die Antwort, die Sie gefunden haben, ihre Geschichte umkrempelt?

Ich ignoriere die Frage nach Möglichkeit. Alles, was nicht im Vorfeld des Romans recherchiert ist, kommt als Frage auf eine Liste, die ich neben dem Schreiben führe, und ich recherchiere es bei Gelegenheit. 
Leider ist das nicht immer machbar, vor allem dann, wenn der Fortgang der Handlung von der Information abhängt. Dann muß man eben unterbrechen - oder sogar die Handlung umstoßen!


Konkret war das im "Jesus Video" so. Auf der Suche nach einer ganz anderen Information stieß ich auf eine Karte, die den Tempelberg und die Höhlen und Gänge und Kavernen darunter zeigte. Ich war fasziniert! Ich wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, daß der Tempelberg NICHT völlig massiv sein könnte. "Das muß ins Buch!" sagte ich und krempelte alles um.


Das muß man halt manchmal. Aber nur, wenn es einen begeistert. 




Wenn man in (Fach-)Büchern /Internet o.ä. recherchiert, ohne wörtlich zu zitieren, muss man dann auch angeben, woher man seine Informationen hat?

Nein. Sie müssen ja auch keine Danksagung an die Mathematiklehrer Ihrer Kindheit anfügen, wenn Sie eine Rechnung stellen und die Einzelposten richtig addiert haben. 




Für meine Diplomarbeit musste ich die ganzen Zitierregeln beachten (vgl. XY, Seite xx) - ist das bei Belletristik anders?

Schriftsteller dürfen sowieso lügen, wenn es ihnen in den Kram paßt, also was sollte das?



Wenn ich mich recht erinnere, hatte Michael Crichton in TIMELINE z.B. ein riesiges Literaturverzeichnis...

Um anzugeben. :-) 



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