Auf das »Wie?« kommt es an

So mit das Erste, was man lernt als Autor, ist das mit der Perspektive. Der alleswissende Erzähler, der über der Szenerie schwebt und seinen Senf abgibt zu dem, was da - angeblich - passiert: Das hat man heute nicht mehr. Eigentlich dürfen das nur noch Hochliteraten, und auch die sollten besser einen guten Grund dafür haben.

Der normale Roman - das, was am Bahnhofskiosk steht oder die Bestsellerlisten bevölkert - ist in der Regel aus der Perspektive einer oder mehrere Figuren geschrieben. Der Anfänger ist gut beraten, das erst mal auch so zu machen und in dieser Hinsicht nicht krampfhaft originell sein zu wollen (wir Leser sind schon zufrieden, wenn die Grundidee nicht allzu offensichtlich geklaut ist); das richtig hinzukriegen ist schwer genug.

Was heißt das: Aus der Perspektive einer Figur? Es heißt, daß in einer bestimmten Szene alles, was geschieht, aus der Sicht einer einzigen Figur geschildert wird, wobei das, was diese denkt und fühlt mit zu dem gehört, was geschieht - nicht jedoch das, was andere Figuren denken oder fühlen! Das bleibt dem Leser in dem Moment genauso verborgen wie der Perspektivfigur.

Die Außenwelt als Spiegel
Es heißt auch, daß wir alles durch die Sinne und das Verständnis der Perspektivfigur wahrnehmen! Angenommen, unsere Figur betritt ein Haus, in dessen Flur ein Gemälde hängt: Wie man das beschreibt, wird dadurch bestimmt, wer diese Figur ist.

Ist die Figur ein Kunstkenner, kann man schreiben:

  • In einer Nische hing ein Monet.

Ist die Figur dagegen ein derber Klotz, kann man höchstens schreiben:

  • In der Nische hing ein gerahmter Ölschinken.

Haben wir es mit einer unter schwerem Triebstau leidenden Figur zu tun, hieße es:

  • In der Nische hing ein Bild mit einem nackten Weib. Mann, hatte die Dinger!

Oder handelt es sich um einen eher drögen Versicherungsfachmann?

  • In der Nische hing, unauffällig gesichert, ein echter alter Meister. Schätzwert: Wenigstens zwei Millionen.

Die Figur könnte auch unter akutem Liebeskummer leiden:

  • In der Nische hing ein Bild. Die Frau darauf erinnerte ihn so sehr an Julia, daß es weh tat.

Und so weiter. Aus der Perspektive einer Figur zu schreiben heißt, ihr sozusagen eine kleine Kamera über der Schulter schweben zu lassen, eine Kamera, die die gleiche Brille aufhat wie die Figur selbst. Mit dem Ergebnis, daß wir, wenn wir die Außenwelt beschreiben, zugleich die Innenwelt der Perspektivfigur zeigen: Die Außenwelt wird also nicht objektiv dargestellt, sondern ist ein Spiegel des Charakters und der inneren Zustände der Figur, um die es geht.

Möglichkeiten der erzählerischen Kamera
Eine Kamera... Daß diese Metapher so gut als Anweisung funktioniert, zeigt übrigens, wie stark die Art und Weise, wie wir heutzutage lesen, von Filmen beeinflußt ist. Ist das gut oder schlecht? Das sei einmal dahingestellt. Auf jeden Fall sollten wir, wenn wir schon dabei sind, eine Kamera schweben zu lassen, uns auch Gedanken darüber machen, wie weit entfernt von der Figur sie sein sollte.

  • Wir können in die TOTALE gehen. Das ist der große Rundumsicht, das Landschaftsbild, der Blick aus ganz großer Entfernung. Das könnte sich etwa so lesen:
    • Nach der Landung des silberglänzenden Flugkörpers geschah lange nichts. Schließlich - die ersten Tiere wagten sich wieder in die Nähe des fremdartigen Gebildes - fuhr mit verhaltenem Zischen eine Luke auf, und eine menschliche Gestalt in einem mattgrauen Raumanzug trat heraus.
  • Das Kino kennt aber auch die HALBTOTALE. Man hat nicht mehr den gleichen Überblick, aber das, was geschieht, ist schon etwas dramatischer. Dabei steht die Kamera ein wenig näher am Geschehen:
    • Nach der Landung stand der silberglänzende Flugkörper reglos. Das Knacken seines Antriebs verstummte, und das von der Druckwelle niedergepreßte Gras begann, sich wieder aufzurichten. Die ersten Tiere wagten sich wieder in die Nähe, besorgt gegen das fremdartige Gebilde witternd und, als plötzlich ein zischender Laut ertönte, in panischer Flucht davonstürmend. Auf einmal war da eine Öffnung in der schimmernden Hülle. Eine menschliche Gestalt in einem mattgrauen Raumanzug kam eine kurze Rampe herab.
  • Die nächstnähere Einstellung heißt im Kino NAHAUFNAHME:
    • Der Anzug blies sich auf, umschloß den Körper wie eine wattige, mattgraue zweite Haut. Er streifte die Haare zurück, mit einer Geste, aus der Gewohnheit sprach, vergewisserte sich, dass sie alle innerhalb des Verschlußringes waren. Der Helm war leicht, machte aber ein vertrauenerweckendes Geräusch beim Einrasten. Die Anzeigen, die in das transparente Material eingelassen waren, glommen sanft auf. Volle Funktionsfähigkeit. Reserven auf hundert Prozent. »Na denn«, sagte er. Seine Stimme klang hohl innerhalb des Helms. Er drückte die breite Taste, sah der Nadel zu, die die Druckskala hinabglitt. Als das Signallicht von rot auf grün wechselte, zog er den Hebel, und das Schott glitt auf. Ein fremder Planet lag vor ihm, und er würde der erste Mensch sein, der ihn betrat.
  • Nun wollen das Kino ein wenig hinter uns lassen, denn der Roman hat mehr Mittel zur Verfügung als nur das Bild. Wir können die Figur NAH schildern und dabei etwa zeigen, daß diese auf die VERGANGENHEIT orientiert ist:
    • Der Anzug umschloß den Körper als mattgraue, wattige zweite Haut, genau wie damals im Training. Er streifte die Haare zurück, vergewisserte sich, dass sie alle innerhalb des Verschlußringes waren, wie man es ihm beigebracht hatte. Der Helm klang massiv beim Einrasten, fast wie die Tür der Zelle, aus der sie ihn geholt hatten. Die Anzeigen glommen auf und zeigten, dass das Aufladen des Anzugs funktioniert hatte. Volle Funktionsfähigkeit. Reserven auf hundert Prozent. Seine Ausbilder wären stolz auf ihn gewesen. Er drückte die Schalttaste der Schleuse und musste daran denken, dass sein ganzes Leben, alles, was er je getan, gesagt und beschlossen hatte, ihn hierher geführt hatte, auf diesen fremden Planeten.
  • Oder, dieselbe Szene mit einer Figur, die in diesem Moment ZUKUNFTSORIENTIERT ist:
    • Der Anzug blies sich auf, umschloß den Körper wie eine schützende, mattgraue Haut. Gut möglich, dass er den Schutz brauchen würde. Er streifte die Haare zurück, stopfte sie auf die Innenseite des Verschlußringes, und der Helm rastete ein. Die Anzeigen in dem transparenten Material glommen sanft auf. Volle Funktionsfähigkeit. Reserven für 72 Stunden, Minimum. Hoffentlich reichte das. Muss eben, sagte er sich und dachte an das seltsame Signal, das sie aufgefangen hatten und daran, dass er herausfinden mußte, was es bedeutete. Er drückte die Taste, und der Luftaustausch der Schleuse begann. Ein fremder Planet wartete auf ihn, den ersten Menschen, der ihn betreten würde.
  • Wir können auch noch näher herangehen. Geradezu intim nahe. Es gibt eine erzählerische Distanz, in der man sozusagen die Poren, Pickeln und Mitesser der Figur erkennt - allerdings kaum mehr etwas von deren Umgebung. Aus dieser Distanz wirkt alles rasch dramatisch, weswegen man es nicht übertreiben sollte.
    • Druck am ganzen Körper, erwürgte einen beinahe, der Anzug. Dicke, wattige zweite Haut. Helm aufsetzen, auf die Haare achten. Das schleifende Geräusch des Einrastens tat in den Ohren weh. Es ging los. Kurzer Check der Anzeigen, blass-rosa Ziffern im Transplast, volle Funktion, hundert Prozent Reserven. Druck auf den Schalter, kaum zu spüren, aber die Nadel sank. Rot wurde zu grün, gut. Obwohl, würde sich noch zeigen, ob das gut war. Er krallte den Hebel, zog, spürte das Zittern im Stahl, als das Schott aufglitt und sich die Rampe entfaltete. Fremdes Licht drang herein, ließ ihn blinzeln. Fremdes Licht, das noch nie einen Menschen beschienen hatte.
  • Und schließlich, nicht zu vergessen, kann man das alles auch ganz SCHNELL und KNAPP zusammengefaßt abhandeln:
    • Er durchflog die Hohmann-Gruppe und landete kurz auf jedem Planeten, um Bodenproben zu nehmen.


Es gibt, um das deutlich zu sagen, nicht die eine richtige Perspektive. Welche man wählen sollte, hängt immer davon ab, welche Wirkung man erzielen möchte. Auch sind die gezeigten Beispiele nur Ausschnitte auf einer fließenden Skala: Manchmal wird man sich aus der Ferne kommend der Figur allmählich nähern, manchmal wird man sie zurücklassen und sich entfernen. Und sicher ist man gut beraten, auf Abwechslung zu achten, genau wie Spielfilme das ja auch tun.

Wenn man jedoch eine bestimmte Szene einmal versuchsweise in jeder der vorgestellten Distanzen zu formulieren versucht, merkt man in der Regel, daß genau eine davon die ist, die so richtig packt. Und die sollte man dann nehmen.


© 2006 Andreas Eschbach
Hinweis: Die Artikel auf dieser Webseite sind das geistige Eigentum von Andreas Eschbach und dürfen nicht ohne vorherige ausdrückliche Erlaubnis reproduziert, kopiert, bearbeitet, veröffentlicht oder auf anderen Webseiten wiedergegeben werden. Ausgenommen hiervon sind Zitate im vom Urheberrecht erlaubten Umfang sowie Kopien für den eigenen Gebrauch, z.B. auf der eigenen Festplatte.
Impressum Datenschutzerklärung Copyrightnachweise

© 1998-2024 Andreas Eschbach • www.andreaseschbach.com • Alle Rechte vorbehalten.