Das Arbeitszimmer des Schriftstellers

Ich will mich nicht lange damit aufhalten, daß ins Arbeitszimmer eines Schriftstellers ein Schreibtisch gehört, eine gute Beleuchtung und die beste Sitzgelegenheit, die man sich leisten kann. Daß es keine zu großen Schreibtische gibt - klar, oder? Daß man kein »Computermöbel« braucht, hoffentlich auch. Und daß Dinge wie Schere, Locher, Hefter und dergleichen griffbereit sein sollten, versteht sich von selbst.

Mir geht es um die Frage, wozu ein Arbeitszimmer da ist und welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit es sozusagen »funktioniert«.

Das tut es dann, wenn es einen bei den Tätigkeiten unterstützt, auf die es ankommt. Im Fall eines Schriftstellers sind das folgende: Erstens denken. Zweitens schreiben. Drittens das Organisatorische.

Zum Denken bedarf es vor allem der Ordnung, zum Schreiben der Ungestörtheit. Und was das Organisatorische anbelangt, soll es vor allem so wenig Zeit und Mühe wie möglich machen.

1.
Beginnen wir mit dem Denken. Das beinhaltet, Ideen dann festzuhalten, wenn sie auftauchen - sie aufzuschreiben also, und da hakt es oft. Eine alte Kaffeetasse mit abgebrochenem Henkel, darin zwei Dutzend Stifte, von denen kein einziger funktioniert: Das kann der Tod einer guten Formulierung sein.

Man gewöhne sich an, nicht mehr schreibende Geräte entweder sofort mit einer neuen Mine zu versehen oder sie gnadenlos umgehend in den Abfall zu werfen. Schon
ein nicht funktionierender Stift ist ein Störfaktor zuviel. Jedes Schreibgerät in Reichweite muß tadellos funktionieren!

(Ein richtig guter, durchaus etwas teurerer Kugelschreiber ist übrigens eine lohnende Investition. Nicht wegen des »Image«, sondern weil so ein Gerät niemals kleckst oder schmiert.)

Gegen die alte Kaffeetasse ist dagegen nichts einzuwenden.

Ferner: Sind immer Notizzettel in Griffweite? Verdrucktes Papier, verworfene Fassungen - rasch mit einer großen Schere in etwa A7-große Zettel geschnitten: Davon kann stets ein Stapel bereitliegen, um mal schnell was zu notieren. Daß die Zettel billig sind und schief, ist gerade recht - so schreckt man nicht davor zurück, sie auch zu benutzen und nach Gebrauch zu entsorgen.

Jeder beschriebene Zettel wird verwahrt - unter einen Briefbeschwerer geklemmt, unter die Schreibunterlage geschoben, an eine Pinnwand gepinnt, wo auch immer. Hauptsache, er geht nicht verloren und man muß nicht groß nachdenken.

Gedanken schriftlich festzuhalten, wenn sie auftauchen - auch und vor allem solche, die mit dem, was man aktuell tut, nichts zu tun haben - ist von fundamentaler Bedeutung: Es befreit. Ein Gedanke, den man festgehalten hat, verfolgt einen nicht mehr. Wenn das Unterbewußte weiß, daß sein Anliegen auf dem Weg ist, läßt es davon ab, zu unterbrechen, und Hirnkapazität wird frei.

Später wird er seiner Bestimmung zugeführt. Eine Notiz, daß man noch Eier fürs Sonntagsfrühstück besorgen wollte? Auf die Einkaufsliste übertragen, dann weg damit. Eine Erinnerung an den Sohnemann, sein Zimmer aufzuräumen, ehe am Wochenende Besuch kommt? Muß vielleicht an seine Zimmertür geheftet bleiben, bis die Sache erledigt ist. Und so weiter.

Natürlich, so steht zu hoffen, sind unter den Ideen ab und zu auch welche, die mit Schreibprojekten zu tun haben. Die werden sinngemäß genauso behandelt. Eine Notiz wie
Ist 'unmaßgeblich' ein neues Lieblingswort? wird dazu führen, daß man das bisher Geschriebene mit der Suchfunktion durchgeht und nachsieht, ob der Verdacht stimmt. Eine Notiz wie In dem Gespräch zwischen John und Peter (Kap.7) einflechten, daß Peter von Laras Schwangerschaft weiß wird man vielleicht noch eine Weile liegen lassen, bis der Moment gekommen ist, den Text zu überarbeiten. Und eine Notiz Romanidee: Könnte man aus dem Blut in den Mägen von Moskitos, die in Bernstein eingeschlossen wurden, Saurier klonen? kommt natürlich dorthin, wo man all seine Romanideen speichert.

Von vielen Autoren ist überliefert, daß sie derlei Notizen auf Zetteln, Bierdeckeln und Servietten einfach in Schuhkartons stopften. Mir sträuben sich bei dem Gedanken alle Nackenhaare. Ein loser Zettel ist ein flüchtiges Übergangsmedium; irgendwann muß er erledigt sein und im Papierkorb verschwinden. Für die langfristige Aufbewahrung von Ideen braucht man ein solides System - ein Notizbuch, einen Ordner, einen Karteikasten. Manche vertrauen solche Aufschriebe ihrem PC an, aber das ist mir als Medium nicht verläßlich genug. Ich besitze Notizen, die dreißig oder vierzig Jahre alt sind und die ich noch tadellos lesen kann - und Disketten, die keine fünfzehn Jahre alt sind, bei denen ich es nicht mehr kann.

In Ordnung finde ich es, eine Notiz zu einem Romanprojekt, das bereits in Arbeit ist, in einen dafür bestimmten Hängeordner zu werfen: Das geht schnell, ist einfach, und wenn man sich die Mappe später einmal vornimmt, hat sich vielleicht schon einiges angesammelt, auf dem man aufbauen kann.

Solche Mappen im voraus anzulegen hilft auch ungemein bei der Recherche. Ein Zeitungsartikel, der mit dem geplanten Roman X zu tun haben könnte? Ausschneiden, ab in die Mappe damit.

2.
Kommen wir zum Schreiben. Das funktioniert um so besser, je weniger man sich ablenken läßt.

Was ablenkt, ist individuell unterschiedlich. Manche verlieren sich beim Blick aus dem Fenster: Die sollten den Schreibtisch tunlichst vor eine Wand stellen. Manche stört jedes Geräusch: Da lohnt Invesition in Lärmschutz. Andere dagegen werden nervös, wenn sie nicht mitkriegen, was sonst so abgeht in der Wohnung: Da muß man das Arbeitszimmer entsprechend gestalten.

Eine der größten Ablenkungen überhaupt ist der PC selbst: Multitaskingfähig, spieletauglich und vernetzt mit dem Rest der Welt - die pure Versuchung.
Information at your fingertips heißt nichts anderes, als daß die nächste Zerstreuung nur einen Mausklick entfernt ist. Der Schreibfluß stockt? Mal sehen, was es an neuen Schlagzeilen gibt. Und ehe man es sich versieht, ist eine halbe Stunde verloren, in der man eine Seite an seinem Roman hätte schreiben können.

Es ist erwägenswert, einen zweiten - vielleicht betagten - Computer ausschließlich fürs Schreiben einzurichten: Nur das Betriebssystem, das Textprogramm, nichts sonst. Der Internet-PC bleibt aus. Das kann für die Produktivität Wunder wirken.

Eine weitere Quelle von Ablenkungen sind die liebsten, nächsten Mitmenschen. Der fürsorgliche Ehemann fragt nur mal kurz, ob er die Wäsche abhängen soll, da Regen aufzieht - schon ist die Stimmung dahin, in die man sich über Stunden mühsam hineingeträumt hat. Die wohlmeinende Gattin läßt wissen, daß sie zum Einkaufen geht - und zerschießt, ohne es zu ahnen, den Dialog zwischen Held und Bösewicht im Showdown. Solche Unterbrechungen können unter Umständen das Äquivalent eines Festplattencrashs mit unwiderbringlichem Verlust eines Kapitels sein. Doch Mitmenschen, die dem Schreibvirus nicht verfallen sind, so etwas verständlich zu machen, wird nicht gelingen. Das Äußerste, was man erreichen kann, ist, daß sie den Wunsch nach Ungestörtheit respektieren. Eine amerikanische Autorin hängt ein Schild vor die Tür, auf dem steht:
Mami schreibt. Nicht stören, es sei denn, es brennt oder jemand blutet.

Man muß allerdings auch dazu stehen und die Sache konsequent durchziehen. Wenn man sagt, daß man von 15 bis 17 Uhr schreiben wird, darf man nicht, von schlechtem Gewissen geplagt, um 15 Uhr 30 schon wieder herauskommen und irgendwas anderes machen - denn sonst sendet man die Botschaft aus, daß man seine Schreibzeit selber nicht ernst nimmt, und warum sollte es dann der Rest der Familie?

3.
Eine andere Art von Störungen sind Unterbrechungen, die entstehen, weil man etwas nachschlagen muß.

Am besten läßt man sich davon erst gar nicht unterbrechen. Stattdessen ein Sonderzeichen in den Text einfügen und eine kurze Notiz schreiben, was für eine Information einem gerade fehlt - etwa so:

»Schon. Aber das war 1966«, gab Jim zu bedenken. »Damals war %%%wer war 1966 amerikanischer Präsident?%%%«

Später trägt man per Suchfunktion alle Fragen zusammen und fügt die fehlenden Informationen ein.

Doch immer geht das nicht. Manchmal hängt der Verlauf der weiteren Handlung von irgendeinem Detail ab. Oder es stört einen, daß man weiterschreiben soll, ohne eine zentrale Information zu kennen - und in dem Fall
sollte man auch nicht weiterschreiben.

Im Idealfall wird nun ein Griff in die Handbibliothek genügen. Was für Bücher müssen griffbereit stehen? Das ist natürlich individuell verschieden. Bei mir sind es:

  • ein Synonymwörterbuch (TEXTOR)
  • ein normales Wörterbuch (WAHRIG)
  • ein Atlas
  • ein Telefonbuch eines Bezirkes von Los Angeles, das mir ein Freund einmal mitgebracht hat und das jede Menge Namen verschiedenster Nationalitäten enthält
  • diverse Bücher mit Verzeichnissen und Übersichten aller Art: Päpste, Präsidenten, Adelstitel, Anreden, das Periodensystem der Elemente, die Umrechnung von Fahrenheit nach Celsius, von Meilen in Kilometer und so weiter.

Außerdem habe ich mir angewohnt, alle Bücher, die ich darüber hinaus aus meiner Bibliothek hole, um etwas nachzuschlagen, neben mir aufzustapeln, bis das Manuskript in der Rohfassung steht. Taucht ein Buch zum wiederholten Mal in dieser Sammlung auf, wandert es ebenfalls in die Handbibliothek.

Zeit fürs Schreiben ist immer knapp. Deshalb sollte man danach trachten, jede verfügbare Minute auch zu nutzen. Am besten schreibt es sich, wenn man »open end« hat - aber wann hat man das schon? In der Regel wartet immer die nächste Verpflichtung, der nächste Termin. Und wenn man um 14 Uhr los muß, um seinen Bus zu erwischen, wird man natürlich schon um 13 Uhr 30 nervös und schaut immer wieder auf die Uhr, aus Furcht, nicht rechtzeitig loszukommen. An konzentriertes, selbstvergessenes Schreiben ist nicht mehr zu denken.

Hier hilft ein simpler
Küchenwecker. Mit einem Griff auf die Zahl der Minuten eingestellt, die einem bleiben, kann man die Zeit bis zuletzt nutzen, weil man sicher weiß, daß man den Termin nicht verpassen wird.

4.
Vermeiden sollte man Störungen, die durch die Textverarbeitung entstehen. Das entsprechende Programm ist ein Werkzeug, und mit seinem Werkzeug muß man umgehen können. Wenn nicht, muß man es lernen. Und wenn einem ein bestimmtes Programm zu kompliziert ist oder immer wieder durch unerwartete Manöver ärgert: Weg damit, ein anderes anschaffen! Textverarbeitungsprogramme gibt es wie Sand am Meer, viele brauchbare sind kostenlos zu haben. (Daß es sich als Schriftsteller mit WORD nicht gescheit arbeiten läßt, unterschreibe ich jederzeit.) Solange man RTF-Dateien erzeugen kann, ist man kompatibel genug.

Daß man seine Daten sichern und außerdem imstande sein muß, verlorene Dateien aus den Sicherungen wieder zu restaurieren, versteht sich von selbst.

5.
Bleiben noch die organisatorischen Dinge, die mit dem Schreiben selbst nur mittelbar zu tun haben. Hier geht es, wie gesagt, darum, diese möglichst reibungslos ablaufen zu lassen, sozusagen »nebenher«. Die Strategie dafür ist einfach: Alles, was man braucht, griffbereit halten und an einem Platz versammelt.

So muß man beispielsweise Korrespondenz erledigen, Manuskripte oder Bücher verschicken: Geht alles schneller, wenn Briefumschläge und Versandtaschen in allen benötigten Größen vorrätig sind, dazu Briefwaage, Briefmarken, Klebstreifen, Schere, Klebestift für Adreßaufkleber sowie ein aktuelles Verzeichnis der Versandkosten.

Das gleiche gilt für Buchhaltung und die Korrespondenz mit dem Finanzamt: Alle hierfür benötigten Unterlagen an einem dafür bestimmten Platz versammeln. Ein Briefkorb oder eine Hängemappe nimmt Belege auf, die irgendwann verbucht und abgeheftet werden.


Ansonsten muß ein Arbeitszimmer nicht aufwendig oder teuer eingerichtet sein. Das bleibt dem persönlichen Geschmack und Geldbeutel überlassen. Funktionieren muß es, darauf kommt es an. Dazu gehört es freilich, daß man sich darin wohlfühlt. Denn wer sich nicht gern in seinem Arbeitszimmer aufhält, mit dessen Roman wird es vermutlich nichts werden.

© 2006 Andreas Eschbach
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