Wie schreibt man eigentlich GUT?

Man mag zu der Schlußfolgerung gelangen, daß man neben aller Akribie der Verlagssuche auch gut daran tut, so gut zu schreiben wie nur irgend möglich. Woraus sich unmittelbar die Frage ergibt: Wie macht man das eigentlich?

Einen ersten Hinweis bietet uns die schon erwähnte Bemerkung Hemingways, die - ich habe nochmal nachgesehen - im Original lautet: »Die wesentlichste Gabe für einen guten Schriftsteller ist ein innerer Apparat, der einen unfehlbar vor jedem Mist warnt.«

Mit anderen Worten, gut schreiben zu lernen heißt lernen zu erkennen, wo man Müll geschrieben hat und wo eine richtig gute Textpassage. Manchmal ist es eine ganze Szene, die man so lassen kann, wie man sie im ersten Anlauf hingeschrieben hat, manchmal ist es auch nur ein Satz, um den herum man alles streichen oder so verändern muß, daß dieser Satz bleiben, ja vielleicht sogar erst richtig zur Wirkung kommen kann.

Als Anfänger ist man dazu schlicht und einfach nicht imstande. Im Gegenteil, anfangs kommt es einem weitgehend beliebig vor, wie man etwas beschreibt, Figuren reden läßt oder Handlung schildert. Hauptsache, man versteht, was da passiert, oder?

Tatsächlich ist das aber nur eine Minimalforderung. Es ist ungefähr so, wie wenn man sagt, beim Essen käme es hauptsächlich darauf an, daß es satt macht: Nicht ganz falsch, aber ein Koch, der bei dieser Berufseinstellung stehen bleibt, wird es unter Garantie niemals zu einem Michelin-Stern bringen.

Es ist jedoch selten, daß Schriftsteller so genügsam in ihren Ansprüchen an sich selbst bleiben. Meist dauert es nicht lange, bis einen der Verdacht beschleicht, daß das, was man schreibt,
irgendwie noch nicht so richtig gut sein könnte. »Als ich es geschrieben habe, klang alles so toll, da hatte ich alles ganz plastisch vor mir - und wenn ich es jetzt einige Zeit später lese, wirkt alles so... blaß.« Eine unvermeidliche Erfahrung. Man hatte die Geschichte deutlich vor dem inneren Auge - aber es ist nicht gelungen, sie so in Worte zu fassen, daß dieses innere Bild beim Lesen wieder entsteht.

Was tut man? Früher wurde man gern hochmütig und zog sich auf eine elitäre »Ich-das-Genie-habe-es-geschrieben-also-muß-es-gut-sein«-Haltung zurück. Heutzutage ist man zum Glück vernünftiger und fängt stattdessen an, nach den Regeln für gutes Schreiben zu suchen.

Solche Regeln gibt es tatsächlich, und nicht einmal wenige. Zählen wir spaßeshalber ein paar davon auf:

  • Verwende Adjektive und Adverbien möglichst sparsam!
  • Meide das Passiv!
  • Gib dem präzisen Wort Vorzug vor dem allgemeinen!
  • Schreibe sinnlich!
  • Vermeide Phrasen und Klischees!
  • Vermeide unnötige Fremdwörter!
  • Schreibe knapp und klar!
  • Versuche, wo möglich, »haben« und »sein« durch präzisere Verben zu ersetzen!
  • Lies Dir das, was Du geschrieben hast, mehrmals laut vor und achte darauf, ob es gut klingt!
  • Überarbeite Deine Texte! Und versuche sie dabei immer um mindestens 10% zu kürzen!

Neben solchen eher sprachlich orientierten Regeln gibt es auch Regeln, die sich eher auf die Gestaltung der Geschichte beziehen:

  • Bring nicht endlos lange Erklärungen als Einstieg!
  • Laß Deine Figur sich nicht selbst im Spiegel beschreiben, das ist echt abgelutscht!
  • Vermeide es, über Schriftsteller zu schreiben!
  • Wechsle nicht mitten in der Szene die Erzählperspektive!
  • Vermeide Aufzählungen/Erzählungen ohne Belang für die Geschichte!
  • Meide, wo irgend möglich, Rückblenden!
  • Wenn schon eine Rückblende, dann sollte sie nicht schon im ersten Kapitel stattfinden!
  • Vermeide es möglichst, Träume zu schildern oder gar eine tragende Rolle spielen zu lassen!
  • Deine Figuren sollten eigene Motiv haben, aus denen heraus sie handeln. »Es ist nötig für die Handlung« ist kein Motiv.
  • Spätestens ab der Mitte der Geschichte dürfen Zufälle keine entscheidende Rolle mehr spielen.
  • Setze nichts voraus, was der Leser nicht wissen kann.
  • Erkläre nichts lang und breit, was der Leser weiß.
  • Verlier Dich nicht in ausschweifenden Abhandlungen, die nichts mit dem Thema zu tun haben.
  • Strebe an, den Leser zu fesseln und zu unterhalten. Widerstehe der Versuchung, ihn beeindrucken oder belehren zu wollen.

Und so weiter. Alle diese Regeln sind richtig - meistens. Absolut setzen darf man sie nicht. Immer lassen sich Beispiele finden, in denen ein Autor gegen eine solche Regel verstößt und damit durchkommt, ja, mehr noch: Es gibt Situationen, in denen man gegen eine solche Regel verstoßen muß, damit ein Text gut wird!

Ist das verwirrend? Ja. Das Problem, mit dem wir es hier zu tun haben, ist von sehr grundsätzlicher Natur:
Qualität entzieht sich allen Versuchen, in Regeln gefaßt zu werden - und zwar auf jedem Gebiet.

Studenten der Bildenden Künste verwirrt man gerne mit einer Diskussion nach folgendem Muster: Ist Albrecht Dürers »Hase«
schön? Zweifellos, aber warum? Weil er so genau und so lebensecht gezeichnet ist. Ist also schön (mit anderen Worten: Ästhetische Qualität) gleichbedeutend mit »lebensecht abgebildet«? Nein, denn eine japanische Tuschzeichnung, des Fujijama etwa oder eines Schwarms ziehender Kraniche, ist auch schön, und zwar gerade weil sie sich nicht mit Details aufhält, sondern das Wesentliche in wenigen, abstrakten Strichen einfängt, die aussehen wie »nur mal eben hingemalt«.

Danach sind alle Studenten restlos verwirrt, und genau das war das Ziel der Diskussion.
Regeln sind nur Leitlinien, aber das, worauf es ankommt, erfassen sie nicht.

Doch wenn wir auch nicht in Regeln oder Formeln fassen können, was Qualität ist, so können wir sie doch
erkennen. Und zwar am leichtesten im Vergleich.

Ist das ein guter Schuh? Schwer zu sagen, wenn man höchstens zweimal im Jahr ein Schuhgeschäft betritt. Doch man halte zwei Schuhe nebeneinander und frage sich: Welcher davon ist der bessere? Das kann man meistens auch beantworten, ohne ein Fachmann zu sein, und deswegen machen wir es beim Schuhkauf instinktiv genau so.

Wie kann man sich das beim Schreiben zunutze machen? Beispielsweise folgendermaßen:

Man nehme sich einen selbst geschriebenen Text vor, für den Anfang eine überschaubare Menge, beispielsweise einen Abschnitt von einer Seite Länge. Diesen drucke man zweimal aus.

Einen der Ausdrucke korrigiere, verändere und überarbeite man nun nach Herzenslust - je mehr man ändert, desto besser. (Dies ist eine
Übung, nicht die künftige Methode der Überarbeitung von Texten!) Danach trage man die Veränderungen in eine Kopie der Originaldatei ein, oder man schreibe gleich alles neu, was meistens einfacher ist.

Anschließend drucke man auch die neue Fassung noch einmal sauber aus
und lege sie neben die erste Fassung.

Damit hat man den Vergleich. Ist der neue Text nun besser? Meistens ist er es, aber durchaus nicht immer. Es kann sein, daß die erste Fassung - zumindest stellenweise - eine Frische, eine Spontaneität, eine Lebendigkeit hat, die in einer Überarbeitung verlorengeht.

Mit genau der gleichen Methode kann man sich mit Schreibregeln auseinandersetzen:

Man schreibe einen (für den Anfang nicht allzu langen) Text »einfach so«. Ausdrucken.

Dann schreibe man denselben Text noch einmal, diesmal unter Berücksichtigung der Regel, die man sich aneignen und deren Sinn und Zweck man verstehen lernen will: Adjektive meiden! Kein Passiv! Treffendere Ausdrücke! Klischees streichen! Oder was auch immer die Regel verlangt. (Anfangs nimmt man sich besser immer nur eine Regel auf einmal vor.)

Besonders lehrreich ist es, denselben Text noch ein drittes Mal zu schreiben und dabei bewußt gegen die fragliche Regel zu handeln. Also: Möglichst viele Adjektive! Passiv, daß es kracht! Allgemeinere Ausdrücke! Klischees, wo es geht!

Beim Vergleich dieser drei Fassungen kann einem so manches Licht aufgehen.

Wichtig ist natürlich, daß man es
wirklich tut, und es nicht bei dem Glauben beläßt, schon zu wissen, was man herausfinden wird. Meistens wird man die Regeln bestätigt finden, natürlich. Doch darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, sich in geeigneter Weise mit ihnen auseinanderzusetzen. Mit ihnen zu ringen. Sie zu hinterfragen. Zu verstehen versuchen, warum sie so sind und nicht anders - und eben das versteht man am besten, indem man einmal bewußt gegen sie verstößt!

Viel Arbeit? Ja, sicher. Aber was für ein Gewinn an Selbstvertrauen, wenn man weiß: Ich kann einen Text gut machen! Ich bin nicht allein dem Glück, dem Zufall, launischen Musen oder dergleichen ausgeliefert. Schließlich will niemand nur zufällig gut schreiben. Denn dann wäre man auch nicht viel besser als ein Schimpanse, der beim Herumtrommeln auf einer Schreibmaschine zufällig ein paar Zeilen Shakespeare zustandebringt.


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