Wie "Die Haarteppichknüpfer" entstanden
Die Rede ist hier von dem ersten Kapitel des gleichnamigen
Buches. Dieses Kapitel war ursprünglich eine
Kurzgeschichte, entstanden am 16. Oktober 1985.
Das hat allerdings eine Vorgeschichte. Ich war damals
Mitglied des Literaturkreises an der Universität Stuttgart,
in dem sich schreibende und dichtende Studenten aus allen
möglichen Fachrichtungen zu meist sehr exotischen Zeiten
trafen, um einander aus ihren Werken vorzulesen und darüber
zu diskutieren. Diesem Kreis gehörte auch ein gewisser
Michael Matzer an, der eines Tages, nachdem ich eine
Kurzgeschichte vorgestellt hatte, nach dem Treffen auf mich
zutrat und erzählte, er sei nebenbei Mitglied der Redaktion
der Stuttgarter Literaturzeitung FLUGASCHE und dort
zuständig für Science Fiction und ob ich nicht eine Science
Fiction-Story für ihn hätte? Vier Druckseiten stünden ihm
zur Verfügung.
"Ja", sagte ich. "Klar hab ich was."
Aber das war gelogen. Oder drücken wir es freundlicher aus:
ich hatte mich geirrt. (Ich war damals ein
Möchtegernschriftsteller. Möchtegernschriftsteller erkennt
man daran, daß sie sich die ganze Zeit fragen, warum
niemand sie und ihr überragendes Talent entdeckt - während
sie tatsächlich gar nichts vorzuweisen haben, das man
entdecken könnte.) Im Licht dieser Herausforderung war
bestürzend wenig in der berühmten Schublade, die ich so
voll gewähnt hatte.
Aber die Aussicht, etwas veröffentlichen zu können,
elektrisierte mich maßlos. Ich konnte buchstäblich nicht
schlafen in dieser Nacht. Gib mir etwas, und ich werde es
drucken! Das war es, war Michael gesagt hatte. Diese Chance
konnte ich mir nicht entgehen lassen.
Also durchstöberte ich meine Ideen-Notizbücher. (Seit jeher
schreibe ich alle Ideen auf, die mir so in den Sinn kommen,
und bewahre diese Notizen gut auf. Mittlerweile ist daraus
eine voluminöse Sammlung geworden. Ideen sind wie Träume -
wenn man sie nicht sofort festhält, vergißt man sie wieder.
Wenn man sie aber festhält, wird man irgendwann gefragt, wo
man nur all diese Ideen hernehme...) Dort stieß ich
schließlich auf ein paar wirre, rasch hingekritzelte Sätze
über Teppiche aus Menschenhaar, so fein, daß man nur einen
einzigen in seinem Leben knüpfen kann, und das sah aus, als
könne man eine leidliche Geschichte daraus machen.
Ich fing am nächsten Tag noch während der Vorlesungen an zu
schreiben. Es war Mittwoch, der 16. Oktober 1985.
Wahrscheinlich bin ich an diesem Tag wie eine Art
Schlafwandler durch die Gegend gewankt. Was um mich herum
geschah, bekam ich überhaupt nicht mit. Ich kritzelte
Sätze, Absätze, Skizzen aufs Papier, während man um mich
herum Formeln und Diagramme von der Tafel abschrieb. Ich
schrieb während des Essens in der Mensa und suchte mir
danach einen Platz in der Bücherei, um weiterzuschreiben.
Der ganze Tag war ein einziges "Flow"-Erlebnis, und abends
war die Geschichte fertig. Ich brauchte sie bloß noch ins
Reine zu tippen, und sie erschien im Dezember 1985 in der
FLUGASCHE.
Es war eine geradezu ekstatische kreative Erfahrung
gewesen, aber die Aufmachung, in der die Kurzgeschichte
dann erschien, ernüchterte mich. Thema des betreffenden
Heftes war "Kinder", und alles war voller
Kinderzeichnungen, zwischen denen die Geschichte ziemlich
ungünstig plaziert war - man fand kaum Anfang und Ende -
und ausgesprochen unscheinbar wirkte. Aber zu meinem
Erstaunen wurde ich in der Folgezeit häufig darauf
angesprochen.
Der imposanteste Vorfall widerfuhr mir im Dezember 1990. Im
Rahmen der Stuttgarter Buchwochen hatte sich die
Gelegenheit ergeben, daß ich einige meiner Kurzgeschichten
lesen durfte - vor einem weitgehend leeren Saal, um der
Wahrheit die Ehre zu geben. Kurz vor Beginn wurde ich dem
Herausgeber der FLUGASCHE vorgestellt, und als mein Name
genannt wurde, fiel diesem sofort ein, daß ich "diese
Geschichte mit den Haarteppichen" geschrieben hatte. Ich
fand das bemerkenswert. Jemand, der alle zwei Monate eine
Literaturzeitschrift zusammenstellt, also unablässig
Manuskripte sichtet und beurteilt, erinnert sich
augenblicklich an eine fünf Jahre zurückliegende
Veröffentlichung? Da wurde mir bewußt, daß diese Geschichte
"etwas hat", wie man so sagt.
Habe wirklich ich sie geschrieben? Manchmal zweifle ich
daran. In der Erinnerung kommt es mir bisweilen so vor, als
hätte damals ein fremder Geist von mir und meiner
Schreibhand Besitz ergriffen. Ein Geist, der aus dieser
anderen Welt stammen muß, aus der noch viele andere
Geschichten Einlaß begehrten in die unsere. Nach und nach
gewann dieser fremde Kosmos an Hintergrund und Volumen.
Irgendwann ging ich daran, alle Geschichten aufzuschreiben,
die aus dieser Quelle strömten, und schließlich tauchte
hinter den einzelnen Episoden jene große, nahezu
unerzählbare Geschichte auf, die sie unmerklich miteinander
verbindet.
Es wurde schließlich mein erster veröffentlichter Roman. Zu
meiner nicht geringen Überraschung erhielt er auf Anhieb
den Literaturpreis des SFCD als bester deutscher
Science-Fiction-Roman 1995 - überraschend nicht zuletzt
deshalb, weil ich bis zu dem Moment, als mich das
Benachrichtigungsschreiben erreichte, nicht einmal gewußt
hatte, daß es einen solchen Preis überhaupt gibt.