Der schlauste Mann der Welt

 

Der schlauste Mann der Welt

Roman
von
Andreas Eschbach


 

 

Eine der Frauen, die im Laufe meines Lebens das Bett mit mir geteilt haben, sagte einmal zu mir, ich sei wahrscheinlich der schlauste Mann der Welt. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob sie das wirklich als Kompliment gemeint hat. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es stimmt. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber ich will im Folgenden über mein Leben berichten, und dann können Sie ja selbst urteilen.

Wo fange ich an? Egal. Ich kann hier und jetzt anfangen. Hier und jetzt sitze ich auf der Terrasse meiner Suite im Hotel Rosenpalais, von der aus man eine phantastische Aussicht über die Stadt hat. Das Wetter ist herrlich, ein mildes Lüftchen weht, nicht zu kalt und nicht zu warm. Von der phantastischen Aussicht mache ich im Moment allerdings keinen Gebrauch, weil ich einen Computer vor mir habe, in dessen Bildschirm ich mich spiegele, während ich schreibe.

Mir gegenüber ist der Etagenkellner damit beschäftigt, auf einem Tischchen einen Imbiss aufzubauen. Ich erspähe ein Stück Kuchen mit Schlagsahne, einen Korb mit frischen Brötchen, eine Schale mit Obst, goldgelben Orangensaft im Glas. Auf einem Teller liegen Lachs, ein paar Scheiben Avocado, Käse, Schinken, dazu Butter und Sahnemeerrettich in weißem Porzellan. Eine kleine Kanne Kaffee steht da und ein Glas Champagner.

Der Kellner gibt sich spürbar Mühe, alles so schön wie möglich für mich anzurichten. Ich hingegen gebe mir keinerlei Mühe für ihn, sondern sitze einfach nur hier in meinem Sessel und schreibe, um endlich einen Anfang zu haben. Würde uns jemand zusehen, er würde den Eindruck haben, dass ich den Kellner gar nicht beachte, doch das stimmt nicht. Ich beobachte ihn durchaus, aber unauffällig.

Er ist recht jung, noch keine dreißig, würde ich behaupten, wirkt tüchtig, gut ausgebildet und serviceorientiert im besten Sinne des Wortes. Ein nützliches Glied der Gesellschaft also. Ich hingegen bin faul, frei von Begabungen oder besonderen Fähigkeiten und kreise ganz und gar um mich und meine persönlichen Bedürfnisse. Ich bin, kurz gesagt, völlig unnütz. Aber ich werde es sein, der sich nachher an diesen Tisch dort setzen und all die Köstlichkeiten essen wird, während der tüchtige junge Mann das Hotel nach Dienstende hungrig verlassen wird, um nach Hause in eine bescheidene Unterkunft zu gehen, weil er sich, schlecht bezahlt, wie Hotelangestellte es nun einmal sind, Besseres nicht leisten kann.

Wenn Sie das Gefühl haben, dass das etwas zu sagen hat, liegen Sie genau richtig. In gewisser Weise haben wir damit das Thema dieses Buches en miniature.

 

***

 

»Guten Appetit, Herr Leunich«, sagt er zum Abschluss, lächelt freundlich und so, als ob es ihm wirklich Spaß gemacht hätte. Vielleicht hat es das sogar. Heutzutage sind die Leute geizig, auch in Hotels dieser Klasse, sodass er womöglich nicht allzu oft Gelegenheit hat, einen so aufwendigen Tisch anzurichten.

Ich bin nicht geizig. Ich habe keinen Grund, es zu sein. Ich habe schon ewig kein selbst verdientes Geld mehr ausgegeben, wieso also sollte ich geizen? Auch diese Hotelrechnung wird am Ende jemand anderes bezahlen, anbei bemerkt.

Ich sage nur kurz: »Danke.« Bestimmt klingt es beiläufig, wahrscheinlich sogar herablassend. Ich habe mich im Verdacht, dass ich mir im Lauf der Jahre einen gönnerhaften Tonfall angewöhnt habe und es schon gar nicht mehr bemerke. Wenn das der Fall sein sollte, dann ist es nicht passiert, weil ich mich für etwas Besseres halte als Menschen, die wirklich arbeiten – das ganz bestimmt nicht –, sondern weil diese Haltung und dieser Tonfall besser funktionieren. Schrecklich viele Menschen lechzen geradezu danach, jemandem zu dienen oder jemanden anhimmeln zu dürfen, von dem sie denken, er sei etwas Besseres als sie selbst. Auf dieser Grundlage funktioniert Aristokratie. Ich habe im Lauf meines Lebens viele Aristokraten kennengelernt, und die meisten waren strohdumme, faule Nichtstuer, deren einzige Fähigkeit darin bestand, bei den Menschen in ihrer Umgebung keinerlei Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass sie etwas Besseres seien.

Vermutlich ließe sich der Zustand der Welt insgesamt aus diesem eigenartigen Bedürfnis herleiten: Ein interessanter Gedanke, dem ich gerne noch nachhängen würde. Aber, wie soll ich sagen? Ich werde nicht die Zeit haben, diese Überlegung weiter zu vertiefen, denn nach Stand der Dinge werde ich in zehn Tagen tot sein, und deswegen beschäftigen mich andere Fragen gerade weitaus mehr.

 

***

 

Der Etagenkellner ist gegangen, ich bin wieder für mich. Es ist ein schöner Moment. Man könnte mich jetzt fotografieren, wie ich in diesem Sessel sitze, den kleinen Computer auf den Knien, und bekäme ein für Werbezwecke ideal geeignetes Bild: ein gut gekleideter älterer Herr vor atemberaubendem Stadtpanorama, vor üppigen Blumen, einen verschwenderisch gedeckten Tisch neben sich.

Wenn ich von hier aus den Blick nach links wende, sehe ich durch das Geländer hinab auf einen weitläufigen, mit wunderschönen Mustern ausgelegten Platz. Menschen überqueren ihn zielstrebigen Schrittes, die einen von links nach rechts, die anderen in der entgegengesetzten Richtung.

Keiner von ihnen ahnt, dass ich hier oben sitze und sie beobachte. Keiner ahnt, dass ich in zehn Tagen sterben werde. Ich weiß noch nicht, wie, aber es könnte gut sein, dass ich dort unten ende, mitten auf dem weitläufigen, wunderschönen Platz, zerschmettert, als ekliger, blutiger Brei, den andere fleißige Menschen, andere nützliche Glieder der Gesellschaft, werden wegputzen müssen. Dann werde ich zum letzten Mal völlig nutzlos und allen eine Last gewesen sein.

Man wird sich fragen, wieso ich das getan habe. Sich keinen Reim darauf machen können. Darum schreibe ich diese Erinnerungen hier. Die werden zwar auch niemandem nützen, aber zumindest werden sie ein paar Antworten geben.


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"Der schlauste Mann der Welt"
Roman von Andreas Eschbach
Bastei-Lübbe, Köln
ISBN 978-3-7857-2849-9
Erhältlich ab 24. 2. 2023