Der Jesus-Deal

 

Nationales Sicherheits-Amt

Roman
von
Andreas Eschbach


 

 

Seit es Lord Charles Babbage im Jahre 1851 gelungen ist, seine – damals noch mit Dampf und Lochkarten betriebene – »Analytische Maschine« fertigzustellen, hat die maschinelle Verarbeitung von Informationen rasche Fortschritte gemacht, was wiederum die gesamte übrige technische Entwicklung wesentlich beschleunigt hat. Noch im Kaiserreich Wilhelms II. wird das Deutsche Netz eingerichtet, der Vorläufer des Weltnetzes, das auch im Weltkrieg 1914/17 eine bedeutende Rolle spielt, ohne jedoch dessen für Deutschland nachteiligen Ausgang verhindern zu können.

In der Weimarer Republik verbreitet sich das noch zu Kriegszeiten entwickelte tragbare Telephon rasch, ebenso die Nutzung der sogenannten Gemeinschaftsmedien, die auch eine wesentliche Rolle beim Aufstieg der NSDAP spielen. Als Adolf Hitler 1933 an die Macht kommt, übernimmt seine Regierung unter anderem auch das Nationale Sicherheits-Amt in Weimar, das seit der Kaiserzeit die Aktivitäten des Weltnetzes überwacht und Zugriff auf alle Daten hat, die Bürger des Deutschen Reichs je erzeugt haben, seien es Kontobewegungen, Termine, Elektrobriefe, Tagebucheinträge oder Meinungsäußerungen im Deutschen Forum …

1

Das schwarze Telephon klingelte zum achten Mal an diesem Morgen.

Die Männer, die rings um den Schreibtisch saßen und warteten, wechselten angespannte Blicke. Schließlich nickten sie dem zu, der direkt vor dem Apparat saß, dem Jüngsten in der Runde, der hellbraune Locken hatte und Sommersprossen.

Der nahm ab. »Nationales Sicherheit-Amt, Engelbrecht am Apparat. Sie wünschen?«

Gleich darauf lächelte er, schaute in die Runde, während er der Stimme am anderen Ende der Leitung lauschte, und schüttelte beruhigend den Kopf. Entwarnung hieß das. Die anderen atmeten wieder auf.

»Ja, kein Problem«, sagte er dann und griff nach einem Bleistift. »Wie buchstabiert man das? L … i … p … Mmh. Mmh.« Er machte sich konzentriert Notizen, bis ihm einer der anderen, ein älterer Mann, der in einem Rollstuhl saß, ein Zeichen gab, indem er vernehmlich auf seine Armbanduhr klopfte. »Gut. Kriegen Sie im Lauf des Tages. Spätestens Morgen. Nein, schneller geht es nicht, tut mir leid. Ja. Heil Hitler.« Er legte auf.

»Und?«, fragte der Mann im Rollstuhl.

»Anruf aus der Ostmark.« Er riss das oberste Blatt des Notizblocks ab. »Die Polizeidirektion Graz braucht das Bewegungsprofil eines gewissen Ferenc Lipovics.«

»Ostmark?« Der Mann im Rollstuhl hob die Augenbrauen.

Der junge Mann lief rot an. »Ich meinte natürlich das Reichsgau Steiermark.«

»Der Rudi hat uns so über, dass er lieber ins Lager geht«, spottete ein anderer, ein stiernackiger Mann mit Glatze.

»Nein, ich –»

Der Mann im Rollstuhl unterbrach das Geplänkel. »Die Zinkeisen soll sich darum kümmern«, bestimmte er. »Gustav, übernimmst du das?«

Der Angesprochene, der Einzige in der Runde, der eine Brille trug, nickte und streckte die Hand nach dem Blatt aus. »Ich geb’s ihr.«

Er verließ das Bureau. Die anderen sanken zurück in ihre Stühle und starrten wieder auf das Telephon, als wollten sie es hypnotisieren.

Zehn Minuten vergingen, ohne dass jemand ein Wort sagte. Der mit der Brille kam zurück, setzte sich wieder auf den Stuhl, auf dem er auch schon vorhin gesessen hatte, ein altes, dunkles Teil mit einem über die Jahre hart gewordenen Lederpolster, das beim Daraufsetzen seufzende Geräusche machte.

Dann klingelte das Telephon wieder.

»Neun«, sagte der mit der Glatze.

Der junge Mann legte die Hand auf den Hörer, atmete einmal durch, hob ab. »Nationales Sicherheits-Amt, Engelbrecht am –« Er hielt inne, lauschte. »Ja. Ja, verstehe. Danke. Ja. Heil Hitler.«

Er legte auf, sah in die Gesichter der anderen, schluckte. »Das war seine Sekretärin. Er ist unterwegs.«

Der Mann im Rollstuhl nickte ernst, setzte ein Stück zurück und wendete in Richtung der Tür. »Also«, sagte er. »Dann geht es los.«

 

***

 

Das Nationale Sicherheits-Amt war in einem trotz seiner beträchtlichen Größe unscheinbaren Gebäude im Zentrum Weimars untergebracht, nicht weit entfernt von jenem Hoftheater, in dem seinerzeit die Verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung getagt und eben den deutschen Staat aus der Taufe gehoben hatte, den man heute die Weimarer Republik nannte. Gegründet worden war das Amt jedoch lange davor, noch unter Wilhelm II., der, als die ersten Komputer zu einem Netzwerk zusammengeschaltet wurden, erkannt hatte, dass hieraus Gefahren für das Staatswesen erwachsen mochten und es demzufolge einer Einrichtung bedurfte, die hierüber die Aufsicht führte. So war das Kaiserliche Komputer-Kontrollamt entstanden, und dass dies in Weimar geschah, war in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass Weimar so etwas wie den annähernd geografischen Mittelpunkt des Deutschen Reiches darstellte und folglich alle Leitungen hier am ökonomischsten zusammenlaufen konnten.

Als der Weltkrieg im Herbst 1917 mit der Niederlage Deutschlands zu Ende ging, war eine der vielen Sanktionen, welche die Siegermächte dem Reich auferlegten, die Aberkennung aller deutschen Patente, natürlich auch jener, die die Konstruktion von Komputern betrafen oder die während des Krieges entwickelte bewegliche Telephonie. Bis dahin hatte man im Rest der Welt Komputer als absonderliche Spielerei betrachtet, abgesehen von England natürlich, deren hochgezüchtete mechanische Analytical Engines bekanntlich die Vorreiter dieser Technologie waren: Die deutschen Rechenmaschinen entsprachen den englischen vom Prinzip her, nur wurden sie elektrisch betrieben. Doch nun hielt auch außerhalb Deutschlands die Komputertechnik Einzug, ohne dass Deutschland etwas dagegen hätte tun können oder einen Nutzen davon gehabt hätte, und dank der Tatsache, dass das Telephonnetz weltweit einheitlich funktionierte, wuchsen innerhalb kürzester Zeit die Komputernetze der verschiedenen Länder zu einem Gebilde zusammen, das man das Weltnetz nannte.

Es war kein Geringerer als Philipp Scheidemann, der erste Regierungschef der Weimarer Republik, der die Befugnisse und Aufgaben des Amtes neu ordnete. Er verfügte, dass es hinfort Nationales Sicherheits-Amt heißen sollte und dass seine Aufgabe darin bestand, genau wie zu Kaiserzeiten die Datenströme im Netz der Komputer dahingehend zu beobachten, ob sich darin irgendeine Gefahr für Deutschland abzeichnete, nur dass dieses Netz sich inzwischen über den gesamten zivilisierten Teil des Globus erstreckte und das Netz der beweglichen Telephonie zusätzlich hinzugekommen war.

Die Regierung Adolf Hitlers hatte das NSA, dessen Existenz den meisten Deutschen völlig unbekannt war, aus der Weimarer Republik übernommen und sich seiner auch von Anfang an bedient, es als Einrichtung aber weitgehend unangetastet gelassen. Der Leiter des NSA, August Adamek, führte diesen im Hinblick auf den sonstigen Umgestaltungswillen der Reichsregierung erstaunlichen Umstand auf, wie er es nannte, »die Magie der Buchstaben« zurück: Offenbar gingen jene, die von der Existenz des NSA wussten, ohne weiteres davon aus, die Buchstaben NS stünden für »national-sozialistisch«, sahen mithin hier keinen Handlungsbedarf.

So waren die Mitarbeiter des NSA unbehelligt geblieben von all den Stürmen der Erneuerung, die über Deutschland hinwegbrausten, und auch weitgehend von den Belastungen, die der Krieg mit sich brachte, abgesehen davon, dass sich ihre Reihen nach und nach durch Einberufungen gelichtet hatten. In aller Stille und Bescheidenheit hatten sie ihre Pflicht erfüllt und all jene Einrichtungen des Staates mit Daten, Listen und Auswertungen versorgt, die solcher Dienste bedurften. Sie wussten alles, was vor sich ging, doch keiner von ihnen hatte jemals außerhalb des Amtes darüber geredet.

Heute war der Tag, an dem sich all das ändern mochte.

Denn der Krieg im Osten war in eine kritische Phase getreten. Die Öffentlichkeit wusste davon noch nichts, abgesehen von Gerüchten, die es immer gab, aber wer im NSA arbeitete, hatte naturgemäß den Überblick über alles, was im Reich geschah, womöglich einen besseren als der Reichskanzler und Führer selbst. Die führenden Mitglieder der Reichsregierung waren in einer Zeit aufgewachsen, in der Komputer noch keinen selbstverständlichen Teil des Alltags dargestellt hatten. Es war nicht ihre Schuld, dass sie kein wirkliches Gefühl für die Möglichkeiten besaßen, welche die Komputer eröffneten.

Doch das hinderte sie nicht daran, Entscheidungen zu treffen. Es war Aufgabe des Amtes, dafür zu sorgen, dass es die richtigen sein würden.

Was sie hatten vorbereiten können, war vorbereitet. Nun kam es nur noch darauf an, dass alles so gelang, wie sie es sich ausgedacht hatten.

 

***

 

Man schrieb den 5. Oktober 1942. Der Himmel war an diesem Montagmorgen so grau, als habe jemand eine gewaltige Glocke aus Blei über das Land gestülpt, und die hohen, schmalen Fenster des NSA-Gebäudes wirkten in dem diffusen Licht wie die Schießscharten einer abwehrbereiten Festung. Kein Lüftchen rührte sich. Die Straßen der Stadt lagen weitgehend verwaist, abgesehen von ein paar Fahrradfahrern, die mit eingezogenen Köpfen eilig ihres Weges strampelten. Entlang der Häuserwände sah man aufgestapelte Sandsäcke vor Kellerfenstern: eine reine Vorsichtsmaßnahme. Bis jetzt hatte es erst ein einziger Bomber des Feindes bis nach Weimar geschafft, und der hatte es nicht vermocht, großen Schaden anzurichten.

Endlich bogen drei schimmernd schwarze Mercedes-Benz-Limousinen des Typs 320 in die Straße ein und rollten in geradezu maschinenhaft präziser Formation die Auffahrt empor, um vor dem Portal zu halten, über dem die Hakenkreuzfahne schlaff und feucht herabhing. SS-Männer in schwarzen Uniformen stiegen aus, sahen sich mit ausdruckslosen, herrischen Gesichtern und raubtierhaften Blicken nach allen Seiten um. Dann öffnete einer von ihnen zackig den Wagenschlag auf der Beifahrerseite des mittleren Wagens, und ein Mann stieg aus, den jedermann sofort erkannt hätte, und sei es nur anhand seiner unverkennbaren runden Brille: Reichsführer SS Heinrich Himmler, der nach Adolf Hitler mächtigste Mann des Reiches.

Himmler trug einen schwarzen Ledermantel und schwarze Handschuhe, die er nun mit ungeduldigen Bewegungen auszog, während er das Gebäude vor ihm betrachtete und insbesondere den über dem Portal eingemeißelten alten lateinischen Wahlspruch SCIENTIA POTENTIA EST, dessen Anblick ihm ein missmutiges Stirnrunzeln entlockte. Die sonstige Umgebung war ihm keinen einzigen Blick wert.

In diesem Augenblick öffneten sich beide Flügel des Portals, mehr als vier Meter hohe Kassettentüren aus dunkler Eiche, und der stellvertretende Leiter des Amtes, Horst Dobrischowsky, trat ins Freie, um den hohen Gast zu begrüßen. Hinter ihm warteten alle Mitarbeiter, die nicht durch dringende Pflichten verhindert waren oder durch anderes, wie im Falle August Adameks, dessen Rollstuhl ins Foyer zu befördern mehr Umstände bereitet hätte, als sachdienlich gewesen wäre.

»Heil Hitler, Reichsführer«, rief Dobrischowsky, die Hand in vorbildlichster Weise zum deutschen Gruß erhoben. »Im Namen des gesamten Amtes darf ich Sie herzlich willkommen heißen.«

Himmlers Rechte zuckte nur kurz und nachlässig nach oben. »Schon gut«, meinte er unleidig, während er die drei Stufen der Treppe erklomm. »Ich habe wenig Zeit. Verschwenden wir sie nicht.«

 

***

 

Helene wischte zum bestimmt hundertsten Mal eine Staubfluse von einer der Bakelit-Kappen auf der Tastatur, die vor ihr auf dem Tisch stand. Sie liebte diese Tastatur, liebte das satte Geräusch, das beim Niederdrücken der Tasten entstand, liebte deren Leichtgängigkeit – und das solide Gefühl, das sie vermittelten. Wie sorgfältig jeder Buchstabe eingefräst war! Die weiße Farbe war trotz täglichen Gebrauchs noch kein bisschen abgenutzt, und dabei war die Tastatur bestimmt über zehn Jahre alt.

Solche Tastaturen wurden heutzutage gar nicht mehr hergestellt. Nicht nur wegen des Krieges, auch schon vorher nicht mehr.

Sie richtete sich auf, atmete durch, sah sich um. Ungewohnt, hier zu arbeiten, in dem Saal, in dem sonst Weihnachtsfeiern stattfanden oder Filmvorführungen oder wichtige Besprechungen, an denen nur die Männer teilnahmen. Es roch immer noch nach Jahrzehnte altem Zigarettenrauch, obwohl sie vergangene Woche jeden Tag gelüftet hatten, und nach Schweiß und Bier und verbranntem Staub. Der Tisch, auf dem ihr Komputer stand, war höher, als sie es gewohnt war, und auch der Stuhl war unpraktisch mit seinen Armlehnen.

Sie rutschte unbehaglich umher, zog ihr Kleid zurecht. Sie hatte ihr bestes Kleid angezogen, wie man es ihr gesagt hatte, und fühlte sich nun fehl am Platz, denn das trug sie sonst nur sonntags oder zu festlichen Anlässen. Aber sogar Herr Adamek, der Amtsleiter, der für gewöhnlich lediglich eine Strickweste über dem Hemd trug, hatte sich heute in einen Anzug gezwängt, also war es wirklich ernst.

Jemand öffnete die Tür. Helene fuhr herum, aber es war nur Engelbrecht, der hereingehumpelt kam.

Er nickte ihr zu. »Hallo, Fräulein Helene. Alles klar?«

Sie nickte beklommen. »Ich glaube schon.«

»Wird schon gutgehen«, meinte er unbekümmert, während er sich vergewisserte, dass der schwere Messingstecker fest in der Bildausgangsdose ihres Komputers saß.

Das dicke, stoffumwickelte Kabel lief einige Meter über den abgewetzten Linoleumboden und dann in den Projektor, der einsatzbereit auf einem anderen Tisch stand, direkt auf die Leinwand gerichtet. Der Lüfter surrte schon die ganze Zeit. Engelbrecht öffnete die seitliche Klappe, hinter der die Kohlen der Lichtbogenlampe in ihren Fassungen saßen.

»Ist er schon da?«, fragte Helene.

Engelbrecht nickte, überprüfte den festen Sitz der Kohlen und die Leichtgängigkeit der automatischen Nachführung. »Horst zeigt ihm gerade die Datenspeicher. Die übliche Tour, nur ein bisschen abgekürzt. Der Reichsführer hat nicht viel Zeit.«

»Gut«, sagte Helene. Dann würde es wenigstens bald ausgestanden sein. Sie hatte die vergangene Nacht kaum ein Auge zugetan vor Nervosität.

Wenn sie wenigsten Bescheid gewusst hätte, worum es überhaupt ging! Aber die Männer machten immer aus allem ein Geheimnis. Frauen sollten nicht mitdenken, sie sollten einfach nur programmieren, was man ihnen vorgab.

Engelbrecht schloss die Klappe zufrieden und ging wieder hinaus. Helene sank seufzend in sich zusammen. Wenn der Tag nur schon vorüber gewesen wäre!

Wieder ging die Tür. Im ersten Moment dachte sie, es sei Engelbrecht, der etwas vergessen hatte, aber er war es nicht, sondern Frau Völkers, ihre Chefin.

Auch das noch.

Rosemarie Völkers war eine magere, kleine Frau von fast sechzig Jahren, die älteste Mitarbeiterin im ganzen Amt, und sie hatte die Angewohnheit, sich mit Tippelschritten zu bewegen, bei denen Helene immer an eine Spinne denken musste, die sich einem in ihrem Netz zappelnden Opfer nähert. Es hieß, sie sei schon seit den Anfängen der Bewegung Mitglied der NSDAP, mit einer nur fünfstelligen Mitgliedsnummer, und seit der Machtergreifung hatte sie noch nie jemand ohne das »Bonbon«, das NSDAP-Parteiabzeichen, am Revers gesehen.

»Fräulein Bodenkamp«, sagte sie, als sie heran war, und spitzlippig wie immer, »ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich sehr hoffe, Ihre Programme rechtfertigen heute das Vertrauen, das Herr Adamek in Sie setzt.«

Helene starrte auf die Schreibmarke, das Einzige, was bis jetzt auf dem Bildschirm zu sehen war. Was konnte man auf eine solche Bemerkung schon erwidern?

»Ich habe alle Routinen getestet«, beteuerte sie. »Ich bin sicher, sie funktionieren alle korrekt.«

»Gut. Dass es ernste Konsequenzen für Sie hätte, wenn Ihre Routinen nichts finden, brauche ich Ihnen hoffentlich nicht zu erklären.«

Nein, dachte Helene. Das weiß ich auch so, du alte Hexe.

»Die Routinen«, sagte sie dann mit aller Ruhe, die sie aufbringen konnte, »können nur etwas finden, wenn auch etwas da ist.«

Die Völkers gab ein abfälliges Schnauben von sich. »Machen Sie sich nicht die Mühe, jetzt schon nach Ausreden zu suchen«, riet sie. »Ich werde keine akzeptieren.«

Damit drehte sie sich um, tippelte davon und verließ den Saal wieder. Helene atmete tief durch, beugte sich nach vorn und strich einmal mehr nervös über die alten, schwarzen Bakelit-Tasten.

 

***

 

Horst Dobrischowsky übernahm es, dem Reichsführer die hinteren Hallen zu zeigen, das eigentliche »Herz« des NSA. Ob das sein müsse, hatte Himmler zu ihrer aller Bestürzung gefragt, worauf ihm der stellvertretende Amtsleiter geistesgegenwärtig versicherte, dass es natürlich nicht unbedingt sein müsse, zum Verständnis dessen, was sie ihm zu präsentieren gedachten, aber doch unbedingt von Vorteil sei. »Na gut«, hatte Himmler gesagt, und so hatten sie den Weg nach hinten eingeschlagen, Dobrischowsky, Himmler und einer seiner Adjutanten, ein Mann mit messerscharfen Gesichtszügen und wässrig-grauen Augen, die wie tot wirkten.

Wozu die erste, ursprüngliche Halle einmal gedient haben mochte, ehe das NSA das Gebäude bezogen hatte, wusste niemand mehr so genau; die Vermutungen gingen dahin, dass sie zu Kaisers Zeiten ein Tanzsaal gewesen war. Dafür sprachen auch die gezierten Torbögen und die Stuckdecke, die vor Jahrzehnten sicher weiß gewesen waren.

Im Lauf der Zeit hatte man mehrmals erweitert, wobei man den Anbauten natürlich keine Stuckdecken mehr spendiert, sondern nüchterne Zweckbauten errichtet hatte, in denen genau wie vorne zahllose schlanke, aufrecht positionierte Zylinder in Reih und Glied standen wie eine Armee kupferfarbener Soldaten. Normalerweise schimmerten sie nicht so wie heute – für das einwandfreie Funktionieren war es unerheblich, ob das Kupfer der Hülle angelaufen war oder nicht –, aber im Hinblick auf den seit langem angekündigten Besuch des Reichsführers hatten die Putzfrauen in den letzten Wochen viel Muskelkraft und viel Zigarrenasche darauf verwendet, die Geräte auf Hochglanz zu polieren.

»Die besten Datensilos der Welt«, erklärte Dobrischowsky über das unablässige, verhaltene Surren und Klackern hinweg, das die Hallen erfüllte und klang, als nähere sich ein Schwarm hungriger Heuschrecken. Er legte die Hand neben das Signet der Firma Siemens, das auf jedem der Zylinder prangte. »Siemens DS-100. Um den Faktor zehntausend schneller als die Geräte vor dem Weltkrieg und um den Faktor eintausend kompakter.«

Bei einer normalen Führung hätte Dobrischowsky an dieser Stelle einige launige Vergleiche gebracht, wie viele Milliarden Informationseinheiten in einem solchen Silo gespeichert werden konnten, wie viele Leitz-Ordner voll es ergäbe, würde man sämtliche in diesen Hallen gelagerten Daten ausdrucken, wie viele Regale man dafür bräuchte und wie viel Stellfläche wiederum für die Regale: Man hätte damit nämlich jedes einzelne Haus in Weimar füllen können und dann immer noch eine Menge Ordner übrig gehabt.

Aber so desinteressiert, wie der Reichsführer dreinschaute, hatte Dobrischowsky das deutliche Gefühl, dass er besser daran tat, diesen Part ausfallen zu lassen.

Also sagte er nur: »Sie sehen hier praktisch ganz Deutschland in Form von Daten erfasst und abgebildet. Zum Zwecke der Auswertung haben wir darüber hinaus unmittelbaren Zugriff auf die zentralen Dienst-Komputer des Weltnetzes, die bekanntlich nach wie vor am …« Er hüstelte. Um ein Haar hätte er am ehemaligen Kaiserlichen Institut für Informationsverarbeitung gesagt. Macht der Gewohnheit. »Die in Berlin an der Universität stehen«, korrigierte er sich.

Himmler machte, die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt, ein paar Schritte. »Nur Deutschland?«, fragte er.

Dobrischowsky räusperte sich. »Gemeint ist natürlich das ganze Reich. In seinen gegenwärtigen Grenzen.« Er hob die Hand, wies nach links. »Kommen Sie, ich kann Ihnen zeigen, wie das konkret aussieht.«

Er dirigierte den hohen Gast und seinen Begleiter in einen Nebenraum, ihren jüngsten Anbau: Sie hatten eine Garage dafür geopfert, die sie infolge der Reduzierung des Personalbestands seit Kriegsbeginn ohnehin nicht mehr benötigten. Hier war nichts mehr zu ahnen von der kupferfarbenen, Reichsparteitag-haften Symmetrie der anderen Hallen; stattdessen standen mehrere graue Kolosse nebeneinander, die aussahen wie gußeiserne Öltanks und dröhnten wie unrund laufende Düsentriebwerke. Jede der Maschinen war auf eine Weise, die nicht nur kompliziert aussah, sondern es auch war, mit dem hausinternen Netz verbunden: ein Knäuel aus grauen, stoffumwickelten Kabeln, selbst gefertigten Anschlussstücken und provisorisch mit Lochblechen ummantelten Schaltkreisen, die sie ebenfalls selbst entwickelt hatten. Für einige davon hatten sie sich mit alten Röhren behelfen müssen, deren rötlicher Widerschein die Kästen geheimnisvoll erhellte.

»Das sind beispielsweise die Datensilos, die nach der Besetzung Polens hergeschafft wurden«, erklärte Dobrischowsky. »Sie enthalten sämtliche Daten des polnischen Telephonnetzes sowie alle Einträge des Polnischen Forums bis zu dessen Stilllegung.«

Tatsächlich stammten die Silos aus englischer Fertigung, und zwar noch aus der Zeit, als die Engländer gerade erst damit begonnen hatten, elektronische Komputer zu bauen anstatt noch mehr ihrer dampfbetriebenen Analytical Engines. Die elektronische Industrie Polens war bei Kriegsbeginn noch vollauf damit beschäftigt gewesen, das Land mit Radiogeräten und Fernsehapparaten zu versorgen; man hätte sich überdies schwer getan, mit den englischen Schleuderpreisen für Komputer zu konkurrieren.

»Sämtliche Daten …«, wiederholte Himmler, und auf einmal ging so etwas wie ein Leuchten über sein Gesicht. »Das heißt, Sie waren das? Sie haben uns diese Berichte geschickt, wo wir die Widerständler finden?«

»Ja«, sagte Dobrischowsky. »Den meisten Menschen ist nicht klar, dass man über ihre Telephone jederzeit ihren Aufenthaltsort ermitteln kann.«

Himmler grinste, sah seinen Adjutanten an. Der meinte mit einem abfälligen Lächeln: »Die Zecken vom polnischen Widerstand haben das irgendwann schon kapiert. Aber da war es halt zu spät.«

Sie lachten beide. Dobrischowsky beließ es bei einem Lächeln, ein Lächeln der Erleichterung. Dass sich die Laune des Reichsführers zu bessern schien, war hoffentlich ein gutes Zeichen. Auf jeden Fall schien er allmählich zu verstehen, was sie für das Vaterland zu tun imstande waren.

Zum ersten Mal an diesem Tag verspürte Dobrischowsky so etwas wie Zuversicht, dass ihr Plan Erfolg haben würde.


Lesen Sie weiter in Teil 2 (ab 29.7.2018) oder in:

"Nationales Sicherheits-Amt"
Roman von Andreas Eschbach
Bastei-Lübbe, Köln
ISBN 978-3-7857-2625-9
Erscheint am 28. 9. 2018