Der Jesus-Deal

 

DER JESUS-DEAL

Roman
von
Andreas Eschbach


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KAPITEL 3

 

Die unvollendete Aufgabe der Evangelisation fordert uns heraus. Wir glauben, dass das Evangelium Gottes gute Nachricht für die ganze Welt ist. Durch Seine Gnade sind wir entschlossen, dem Auftrag Jesu Christi zu gehorchen, indem wir Sein Heil der ganzen Menschheit verkündigen, um alle Völker zu Jüngern zu machen. (…)
Über 2,7 Milliarden Menschen, mehr als zwei Drittel der Menschheit, müssen noch mit dem Evangelium bekannt gemacht werden. Wir schämen uns, dass so viele vernachlässigt wurden; das ist ein ständiger Vorwurf gegen uns und die ganze Kirche. Jedoch ist jetzt in vielen Teilen der Welt eine beispiellose Aufnahmebereitschaft für den Herrn Jesus Christus zu erkennen. Wir sind überzeugt, dass jetzt die Zeit für Gemeinden und übergemeindliche Werke gekommen ist, ernsthaft für das Heil der bisher nicht Erreichten zu beten und neue Anstrengungen für Weltevangelisation zu unternehmen.

Aus der »Lausanner Verpflichtung«, der Grundsatzerklärung der Evangelikalen Bewegung, die 1974 auf Initiative und unter Leitung von Billy Graham von 2300 evangelikalen Führern aus 150 Ländern auf dem »Internationalen Kongress für Weltevangelisation« verabschiedet wurde

 

Eine Welle der Aufregung schien auf diese Worte hin durch den Salon zu branden. Überall griffen Hände nach Wasserflaschen und öffneten sie. Sprudel gluckerte in Gläser. Stuhlbeine scharrten über den Parkettboden. Sitzpolster knirschten. Kugelschreiber wurden aufgenommen und wieder hingelegt, Kaffee in Tassen gegossen.

Die Männer schienen nicht zu wissen, was sie von dieser Geschichte halten sollten. Und sich zu ärgern, dafür den weiten Weg auf sich genommen zu haben.

»Also, mir kommt das … wie soll ich sagen? Frevelhaft vor. Allein der Gedanke«, meinte jemand.

»Haltlos«, warf ein anderer ein. »Haltlos, meine ich.«

»Andererseits, bei Gott ist nichts unmöglich«, sagte ein Dritter, in dessen Gesicht auf einmal ein erwartungsvolles Leuchten lag. »Tausend Jahre sind vor ihm wie ein Tag. Also, warum sollte es nicht möglich sein, dass –?«

»Zeitreisen!«, unterbrach ein Vierter, hitzig vor Empörung. »Das ist banalste Science-Fiction! Mit so etwas sollten wir uns nicht –«

Michael wechselte einen Blick mit seinem Bruder. Isaaks Gesicht leuchtete ebenfalls.

Sein eigenes, dessen war sich Michael sicher, auch.

»Bitte!«, rief ihr Vater, die Arme ausgebreitet. »Bitte … meine Freunde …!«

Nach und nach kehrte wieder Ruhe ein, wenn es auch eine eher widerwillige, jederzeit absprungbereite Ruhe war.

»Die Theorie, der Kaun folgte, war folgende: Es wird in naher Zukunft eine Zeitreise stattfinden – in der Zukunft deshalb, weil so etwas derzeit, wie wir wissen, unmöglich ist. Andererseits nimmt der Zeitreisende eine SONY MR-01 mit, ein derzeit aktuelles Highend-Kameramodell, und bekanntlich bleiben Kameras heutzutage nur wenige Jahre aktuell. Die Zeitreise kann folglich nicht allzu weit in der Zukunft beginnen.«

Hier und da blitzten goldene Manschettenknöpfe auf, als Hände nach Kugelschreibern griffen und etwas aufschrieben, den Namen der Kamera vermutlich.

»Dieser Zeitreisende, so die Theorie weiter, ist in die Zeit Jesu’ gereist, um Aufnahmen von ihm zu machen – aber er ist nicht zurückgekehrt, sondern aus irgendeinem Grund geblieben. Er hat jedoch seine Kamera so versteckt, dass sie die Jahrtausende überdauern konnte. Das war es, was John Kaun damals vor drei Jahren in Israel so verbissen gesucht hat: diese Kamera.«

Michael hätte schreien mögen vor Begeisterung. Jetzt verstand er, warum sein Vater gesagt hatte, dies sei der womöglich wichtigste Tag seines Lebens! Absolut!

»Und?«, fragte jemand. »Hat er sie gefunden?«

»Diesbezüglich war der Autor des Buches unschlüssig«, erwiderte ihr Vater, die Hand immer noch auf dem Papierstapel. »Es gibt Argumente dafür, aber auch dagegen. Das wichtigste Gegenargument: John Kaun besaß damals mit N.E.W. einen Nachrichtensender – wenn er authentische Aufnahmen von Jesus aufgestöbert hat, warum hat er sie dann nicht zum Gegenstand einer Sendung gemacht? Die Antwort, die Liebermann für die wahrscheinlichste hält, war, dass die Kamera tatsächlich gefunden wurde – aber nicht von Kaun.«

Je länger es dauerte, auf desto mehr Gesichtern schien sich Faszination abzuzeichnen. »Was für ein Gedanke!«, hörte Michael jemanden flüstern.

Ihr Vater legte sich die Hände auf die Brust. »Für mich, liebe Freunde, war dieses Manuskript ein Zeichen. Ich habe verstanden, dass all die Dinge, die mich so ratlos gemacht hatten – die unerwartete Auflösung von Kaun Enterprises, der jähe Mitbesitz eines Schundverlages –, so geschehen mussten, weil Gottes Plan dahinter stand. Ich hatte gezweifelt, und einmal mehr hat mir Gott gezeigt, dass wir, die wir uns ihm mit Leib und Seele anvertraut haben, keinen Grund haben, je an ihm zu zweifeln. Wir verstehen seine Wege nicht immer, freilich nicht … doch wir dürfen auf ihn vertrauen, jederzeit und unter allen Umständen.« Er ließ die Hände wieder sinken. »Ich habe besagten Uri Liebermann kontaktiert und mit ihm ausgehandelt, dass das Manuskript unveröffentlicht bleibt, er aber dafür mit einem Betrag entschädigt wird, der höher war als alles, was er mit einer Veröffentlichung hätte verdienen können. Er war diesem Deal gegenüber sehr aufgeschlossen, weil er einerseits dringend Geld benötigte, andererseits nach der langen Zeit der Verlagssuche die Hoffnung auf eine Veröffentlichung sowieso schon aufgegeben hatte. Unter uns gesagt war mein Eindruck, dass ihn das Thema ohnehin nicht wirklich berührte. Er war eben am Rande in die Vorfälle verwickelt gewesen und hat versucht, davon zu profitieren.«

Völlige Stille. Michael roch den Duft des eingeschenkten, aber nicht getrunkenen Kaffees.

»Anschließend bin ich den Hinweisen aus dem Manuskript nachgegangen. Ich habe vertrauenswürdige Mitarbeiter meines Sicherheitsdienstes angewiesen, die Beteiligten der damaligen Ereignisse ausfindig zu machen und sie unauffällig zu beobachten.«

Vater griff nach der Fernbedienung, dimmte das Licht wieder.

»Um es kurz zu machen: Es ist uns vor ein paar Tagen gelungen, die Speicherkassette, die sich in der bewussten Kamera befand, in unseren Besitz zu bringen. Ein Foto konnten wir schon gewinnen.« Er hob die Fernbedienung in Richtung Beamer. »Ich bin überzeugt, dass es Jesus zeigt.«

Der Beamer leuchtete auf. Und dann …

Erschien das Bild.

 

Michael hätte um ein Haar aufgeschrien. Ja! Ja! Nun verstand er endlich! Das Ding, das Isaak und die Männer aus England mitgebracht hatten, war die Speicherkassette gewesen! Und ja, das war der wichtigste Gegenstand der Welt, Vater hatte völlig, völlig recht!

Jesus. Das war er. Das musste er sein.

Michael sah das Gesicht eines Mannes, das ihm vertraut war, seit er denken konnte – allerdings immer nur in Form von Zeichnungen oder Gemälden. Dies war ein Foto, doch es war den Abbildungen, die er kannte, gar nicht unähnlich. Es zeigte einen Mann, der am Ende eines roh gezimmerten Holztisches saß, unter freiem Himmel, umgeben von anderen Menschen, die alle zu ihm hinsahen. Er hatte ein schmales Gesicht mit edlen, hohen Wangenknochen und einer scharf geschnittenen Nase, umrahmt von wallenden Haaren, und er blickte direkt in die Kamera.

Und dieser Blick … Diese Augen …! Michael erschauerte vor der unergründlichen Kraft darin, die einen förmlich einsaugte, vor der Unendlichkeit, in die man durch sie hindurch zu blicken glaubte. Über den Abgrund von zweitausend Jahren hinweg spürte man das unendliche Wissen, das unendliche Verstehen … die unendliche Liebe dieses Mannes, selbst aus einem Foto!

Der wichtigste Tag seines Lebens. Ja, so war es. Der wichtigste Tag, die wichtigste Stunde, der wichtigste Augenblick: dieser.

Er konnte seinen Blick nicht von dem Jesu wenden, fühlte, wie sich dessen Abbild in seine Seele einbrannte. Ach, wie gern wäre er an der Stelle desjenigen gewesen, der diese Aufnahme geschossen hatte! Er verstand jetzt nur zu gut, dass der Zeitreisende nicht in die heutige Zeit zurückgekehrt war, dass er dortgeblieben war, um mit Jesus zu ziehen. Er hätte es genauso gemacht, wäre ebenfalls geblieben, ohne zu zögern.

Michael starrte das projizierte Foto an und wünschte sich nur, dieser Moment würde nie enden, das Bild nie wieder verschwinden. Doch dann dämmerte ihm, dass es ja nicht enden würde! Das Bild war ja jetzt da, greifbar, verfügbar! Er würde es sich wieder und wieder anschauen können, so oft er wollte und so lange er wollte!

Erfüllt von Glückseligkeit und mit dem Gefühl, von innen heraus zu leuchten, sah Michael seinen großen Bruder an: Auch Isaak schaute fasziniert auf das Antlitz Jesu’, schien zu glühen vor Glück.

Dann sah Michael in die Runde der Gesegneten, die dieses Bild vor allen anderen hatten sehen dürfen, was für ein glorreicher Augenblick!

Doch die Männer, die Vater eingeladen hatte, wirkten alles andere als hingerissen. Im Gegenteil, die meisten wirkten skeptisch. Verzogen die Gesichter, als seien sie peinlich berührt. Schauten abweisend drein, fast verärgert. Wandten den Blick ab!

Seltsam. Michael verstand es nicht. Was war los?

Nicht alle. Einige lächelten, sahen gebannt hinauf zu der Projektion. Ein paar zumindest.

Es war Reverend Graham, der das Schweigen schließlich brach. »Ich muss gestehen, ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte er. »Freilich, Gott ist nichts unmöglich. Andererseits wüsste ich im Moment keine Stelle in der Bibel, die sich so interpretieren ließe, dass er eine Zeitreise vorsieht. Deswegen frage ich mich – wohlgemerkt ohne Ihnen, Samuel, das Geringste unterstellen zu wollen –, wie wir Gewissheit erlangen könnten, hier nicht einem raffinierten Betrug aufzusitzen. Ich sehe nicht, wie wir zu einer solchen Gewissheit kommen könnten. Wie viel Verlass ist auf den Bericht dieses Mister Liebermann? Wie können wir das wissen? Wie gesagt, ich glaube Ihnen, Samuel, dass Sie nach bestem Gewissen gehandelt haben. Aber das sagt leider nichts über das Gewissen der anderen Beteiligten aus.«

Michael sank fassungslos gegen die Lehne seines Stuhls. Ein Betrug? Wie konnte man dieses Bild für falsch halten? Das war Jesus, das sah man doch! Das spürte man doch! Er presste die Lippen fest zusammen, um nicht aus Versehen mit einem Zwischenruf herauszuplatzen.

»Und selbst wenn wir uns unserer Sache sicher wären«, fuhr der greise Reverend fort, »hielte ich es trotzdem für verfehlt, das Foto etwa in der Evangelisation einzusetzen. Es beweist für sich genommen nichts. Es würde nur nie endende Diskussionen auslösen darüber, ob es echt ist oder nicht, Diskussionen, die auf fatale Weise von der Botschaft Jesu ablenken würden, um die es ja geht. Es würde die Unsicherheit vermehren, anstatt den Menschen Gewissheit im Glauben zu schenken.«

»Sie haben absolut recht«, sagte ihr Vater zu Michaels Verblüffung. »Es war auch nie meine Absicht, ein Medienereignis daraus zu machen. Es ging mir darum, diese Aufnahme vor unchristlichen Händen zu schützen. Ich habe nichts anderes vor, als den Inhalt der Kassette mit höchster Ehrfurcht zu behandeln.«

»Erlauben Sie mir eine Zwischenfrage«, meldete sich Gouverneur DenHaag zu Wort. »Meine Frau wird mir genau so eine Kamera zu Weihnachten schenken, von daher sagt mir die Modellbezeichnung etwas. Meines Wissens ist es eigentlich eine Videokamera.«

Ihr Vater nickte knapp. »Moderne Digitalkameras können ja in der Regel beides, Fotografie und Video.«

»Was ich meine, ist: Auf dieser Kassette könnte womöglich auch ein Video sein.«

»Das werden die Untersuchungen im Labor zeigen«, erwiderte Vater mit jener Beiläufigkeit, mit der er, wie Michael nur zu gut wusste, Themen behandelte, über die er nichts Näheres sagen wollte. »Bedenken Sie, die Kassette ist dadurch, dass sie in die Vergangenheit transportiert wurde, zweitausend Jahre alt. Sie können sich vorstellen, in welch höchst delikatem Zustand sie sich befindet.«

Ein anderer Mann, Reverend Pierce, hob die Hand. Doch ihr Vater bedeutete ihm mit einer Geste, sich einen Moment zu gedulden, und fuhr fort: »Ehe wir tiefer in die Diskussion einsteigen und womöglich Kircheninterna zur Sprache kommen, möchte ich euch, Isaak und Michael, bitten, uns nun allein zu lassen. Ihr wisst jetzt, worum es geht – bewahrt darüber einstweilen strengstes Stillschweigen. Wir sehen uns nachher beim Essen.«

 

Es tat Michael nicht leid, gehen zu müssen. Er war immer noch ganz erfüllt, als sie in die Halle traten und sich die schwere, schalldichte Tür satt und lautlos hinter ihnen schloss. Keiner von ihnen sagte ein Wort, doch sie schlugen in blindem Verstehen denselben Weg ein: quer durch die Halle und hinaus in den Garten.

Die Welt erschien Michael auf einmal völlig verändert. Alles schien zu strahlen, zu leuchten, wirkte, als sei es mit Elektrizität aufgeladen. Er selber fühlte sich auf jeden Fall so: Seine Fingerspitzen kribbelten, sein ganzer Körper schien unmerklich zu vibrieren.

»Stell dir vor, wenn auf der Kassette ein Video wäre!«, brach es schließlich aus ihm heraus. »Ein Video von Jesus!«

»Nicht so laut«, mahnte Isaak. »Es ist eins drauf.«

Michael fuhr herum. »Was?«

»He! Geht’s auch leiser? Dad hat gesagt, wir sollen Stillschweigen bewahren, und du schreist hier herum wie ein –«

»Ich schrei nicht«, erwiderte Michael heftig, aber nun im Flüsterton. »Was hast du gesagt?«

Isaak sah sich um und erklärte dann mit gedämpfter Stimme: »Dad hat es mir kurz vor der Besprechung gesagt. Auf der Kassette ist tatsächlich eine Videoaufnahme. Das Bild, das Dad gezeigt hat, war nur ein Screenshot davon.«

»Was? Aber wieso hat er das nicht gesagt?«

»Er meint, wir müssen Ehrfurcht zeigen und Glaubensstärke. Wir werden Jesus einst im Himmel von Angesicht zu Angesicht sehen, dessen können wir gewiss sein. Also brauchen wir keine solche Stütze unseres Glaubens. Er sagt, das Video könnte sogar eine Versuchung sein.«

Sie schwiegen, gingen weiter. Es war kalt, der Geruch nach Rauch war verschwunden. Feuchtigkeit lag in der Luft, tropfte von den Ästen der Büsche ringsumher. Zwei einsame Vögel hüpften quer über den Rasen.

»Weißt du was?«, fragte Michael nach einer Weile.

»Was?«

»Ich würde das Video trotzdem gern sehen.«

Isaak seufzte abgrundtief. »Ich auch.«

»Die Leute im Labor schauen es sich bestimmt an, oder?«

»Die Kassette ist nicht im Labor«, sagte Isaak. »Dad hat sie im Safe.«

»Ehrlich?«

»Er hat sie mir gezeigt. Sie ist auch nicht so zerbrechlich, wie er getan hat. Ein Klotz aus schwarzem Plastik, ein bisschen zerkratzt, und an einer Stelle ist ein Stück der Hülle abgebrochen und wieder festgeklebt worden.«

Michael spürte ein innerliches Sehnen, das ihn fast zerriss. Es war noch stärker als das unkeusche Verlangen, das ihn manchmal befiel, wenn er an Jennifer Hughes aus der Parallelklasse dachte.

»Und wenn wir«, schlug er mit bebender Stimme vor, »uns heute Nacht in Dads Arbeitszimmer schleichen …?«

»Das wäre Ungehorsam«, stellte Isaak nüchtern fest. »Sünde.«

»Ja.« Michael seufzte. »Du hast recht.«

»Außerdem ist die Kassette, wie gesagt, im Safe.«

Michael musterte seinen großen Bruder, dann sagte er so lässig wie möglich: »6-2-9-5-9.«

»Wie bitte?«

»Das ist die Kombination.« Er grinste. »Ich hab Dad beobachtet.«

Isaak blieb stehen, sah fassungslos auf ihn herab. »Weißt du was? Du bist –«

»Cool«, sagte Michael triumphierend. »Gib’s zu!«

»Nein«, widersprach Isaak. »Das ist nicht cool. Das ist sündhaft. Du hast Dads Vertrauen missbraucht.«

»Quatsch«, protestierte Michael. »Er hätte ja besser aufpassen können. Ist doch nicht meine Schuld.«

»Sagte Adam zu Gott, als er sich rausreden wollte.«

Michael drehte sich beleidigt weg. Isaak wollte es ihm nur vermiesen, dass er einmal etwas wusste, was dem großen Bruder entgangen war. Ja, so war es.

Außerdem fuchste ihn, dass Isaak womöglich recht hatte. Dass es vielleicht tatsächlich eine Sünde gewesen war, Dad so genau auf die Finger zu schauen. Und er damit ein Sünder war. Schwach. Unwürdig. Ein leichtes Opfer jeder Versuchung. Nicht so jemand wie Isaak, der über allen Dingen stand, der zu allen einfach nur höflich und freundlich war, sogar zu Mädchen.

Zornig und zerknirscht zugleich ging er weiter, dankbar, dass Isaak schwieg und das Thema ruhen ließ. Die Kälte gefror ihren Atem zu dichten, weißen Wolken und biss in die Glieder, aber das tat gut, wenn es auch das innerliche Brodeln nicht zu verringern imstande war.

Es schien ewig zu dauern, bis die Besprechung zu Ende war. Tatsächlich kamen die Männer jedoch pünktlich zum Essen heraus, alle schweigsam und nachdenklich. Reverend Graham sprach das Tischgebet, sagte unter anderem: »Jesus hat gesagt: Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. Das heißt, dass wir allezeit bereit sein sollen, aber auch, dass wir immer hoffen dürfen. Doch Jesus hat auch gesagt: Wer aber bis zum Ende standhaft bleibt, wird gerettet. Und diese gute Botschaft vom Reich Gottes wird in der ganzen Welt gepredigt werden, damit alle Völker sie hören. Dann erst kommt das Ende. Lasst uns deswegen all unsere Kraft und Leidenschaft in die Verkündigung seines Wortes geben, um der Welt das Heil zu bringen.«

Michael, innerlich zerrissen vor Sehnsucht und Abscheu vor sich selbst, nahm kaum wahr, was er aß. Es wurde wenig gesprochen und wenn, dann gewöhnliche Dinge. Es war fast, als hätte es die Fotografie von Jesus nie gegeben.

Ehe er an diesem Abend zu Bett ging, betete er inbrünstig um Erlösung von unreinen Gedanken und Begierden. Doch er lag trotzdem noch lange wach, ehe ihn der Schlaf endlich übermannte.

 

»Michael!«

Jemand rüttelte heftig an seiner Schulter, schüttelte ihn erbarmungslos. Wieso nur? Vielleicht, wenn er sich tiefer in seine warme Decke vergrub …

»Michael, wach auf!«

Es half nichts. Er stemmte die Augen auf. Es war noch stockdunkel, nein, nicht ganz, in den Fenstern glomm das unmerkliche, blaue Licht einer mondlosen, sternklaren Nacht. »Was denn?«

»Du musst mir was versprechen!«

Es war Isaak. Isaak, der auf eine Art flüsterte, dass es sich anhörte, als schrie er. Isaak, der sich jetzt vorbeugte und Michaels Nachttischlampe einschaltete.

Michael erschrak, als er seinen Bruder im mattgelben Licht der Lampe sah. Isaak war schon angezogen, aber seine Kleidung war so durcheinander, als hätte er mit jemandem gekämpft oder schwere Dinge geschleppt. »Was ist passiert?«

»Michael!« Isaak kniete sich vor das Bett, packte ihn fest am Arm. »Du musst mir versprechen, dass du dir das Video nie, nie, nie anschauen wirst!«

Er hatte seinen Bruder noch nie so aufgewühlt erlebt, nicht annähernd. Isaaks Blick war unstet, auf seiner Stirn stand Schweiß, seine Unterlippe war zerbissen.

»Das Video?«, fragte Michael verwirr. »Wieso nicht?«

»Weil ich es getan habe.«

»Was?«

»Ich hab mich in Dads Arbeitszimmer geschlichen. Den Safe aufgemacht. Die Kassette und den Player herausgeholt und an meinen Fernseher angeschlossen –«

»Ohne mich?«

Isaak packte ihn noch fester, rüttelte mit irrer Wildheit an seinem Arm. »Zum Glück! Zum Glück! Michael, du darfst dir dieses Video niemals ansehen, niemals im Leben. Versprich mir das bei allem, was dir heilig ist!«

»Wieso denn nicht?«

»Michael, das Video … es macht etwas mit einem. Es nimmt dir alles, was du hast, was du bist, was du glaubst. Du bist danach nicht mehr derselbe, verstehst du? Es … es zerstört dich!«

Ein eisiger Schauer durchlief Michael. »Aber … das kann doch nicht sein …« Wenn es Jesus zeigte? Den Erlöser? Den Heiland? Gottes Sohn?

»Versprich es!«, verlangte Isaak erneut, ihn mit einem grässlichen Blick durchbohrend, in dem Panik stand, namenloser Schrecken und vor allem Angst, entsetzliche Angst.

»Okay, okay. Ich versprech es.«

»Nein. Sag es. Sag: Ich verspreche, dass ich mir dieses Video niemals anschauen werde, solange ich lebe.«

»Ich verspreche, dass ich mir dieses Video niemals anschauen werde, solange ich lebe.«

Isaak ließ ihn los, endlich. »Gut«, sagte er. »Vergiss das nie.« Er griff nach der Lampe. »Und jetzt schlaf weiter.« Alles verschwand in Dunkelheit. »Leb wohl, Bruder.«


Lesen Sie weiter in Kapitel 4 (ab 15.9.2014) oder in

"Der Jesus-Deal"
Roman von Andreas Eschbach
Bastei-Lübbe, Köln
ISBN 978-3-431-03900-9
Erscheint am 8. 10. 2014