Eines Menschen Flügel

 

Eines Menschen Flügel

Roman
von
Andreas Eschbach


Zurück zu Teil 2

 

 

Die Sterne sehen

Er startete von der Klippe über der Werkstatt. Das große Licht des Tages stand schon tief über dem Meer, das ruhig und sattgrün dalag, von einer Farbe wie wogendes Moos, gesprenkelt mit hell schimmernden Fetzen kühlen Dunstes, der den Horizont weiß gegen den Himmel verschwimmen ließ. Eiris half ihm, die Trage anzulegen und die gepolsterten Gurte aus Hiibu-Leder so eng zu schnüren, dass sie nicht reiben würden und ihn dennoch nicht in seinen Bewegungen einschränkten. Die Feuerschnur lag zusammengerollt an seiner Seite, mehrfach gefaltet, damit sie nicht aus Versehen gerissen werden konnte und gleichwohl gut zu erreichen war. Die Trage mitsamt der Rakete darauf wog schwerer, als Owen sie in Erinnerung hatte, aber er ließ sich nichts anmerken. Er war stark und hatte den Himmel schon zweimal bezwungen. Er würde ihn auch ein drittes Mal bezwingen.

Er entfaltete seine Flügel, weit, als wolle er sich von dem kühlen auflandigen Wind auf der Stelle davontragen lassen, und vollführte ein paar knallende Flügelschläge. Da, wo das Fett, das Eiris ihm einmassiert hatte, noch nicht ganz trocken war, kribbelte es auf der Haut. Die Luft rauschte leise in der Spanne seiner Flügel, und er spürte in Brust und Rücken das Ziehen der Muskeln, auf die eine Anstrengung ohne Beispiel wartete.

Eiris küsste ihn zum Abschied, ohne ein Wort, und als er sie umarmte, fühlte er die Ansätze ihrer schlanken, schmalen Flügel beben. Aber sie lächelte tapfer und sagte: »Nun geh schon.«

Da stieß sich Owen von der Klippe ab, griff weit in die Luft und segelte davon, hinaus auf den stillen, dunkel werdenden Ozean. So spät am Nachmittag war der Wind vom Meer her zu schwach für eine aufwärts tragende Strömung, aber er wusste, dass er um diese Jahreszeit eine wunderbare Thermik über den heißen Quellen finden würde, und genau so war es auch. Die Luft trug ihn empor, als wolle sie ihm zu verstehen geben, dass sie auf seiner Seite war. Ein, zwei Schläge nur waren nötig, ein bisschen manövrieren musste er, und im Nu stieg er höher hinauf, als er erwartet hatte. Als ihn die Thermik schließlich entließ, waren die Küstenlande zu Spielzeug geschrumpft.

Voll jubelnder Zuversicht zog er einen Kreis und begann das erste Schwungmanöver. Flügel anlegen, stürzen. Den Sturz mit Treibschlägen beschleunigen. Weit ausspannen und in einen flachen Bogen übergehen, bis in die Aufwärtsbewegung hinein, und dann ausholende, peitschende Schläge, hinauf, hinauf, hinauf …

Es durchfuhr ihn heiß und kalt, als er merkte, dass er nach dem ersten Schwung nicht nur keine Höhe gewonnen, sondern sogar Höhe verloren hatte, und nicht wenig. Fast hätte er aufgeschrien vor Enttäuschung. Wie konnte das sein? Er hatte diesen Schwung an die tausend Mal geübt, ihn bei seinen Aufstiegen zum Firmament hunderte Male benutzt …

Aber eben niemals mit einer Lastentrage auf dem Rücken.

Es half nichts. Er würde abbrechen müssen. Er würde den Schwung der Pfeilfalken neu üben müssen, mit der Trage diesmal, und es dann neu versuchen. Doch da fiel ihm Eiris ein, die vielleicht bald ihr Kind erwarten würde, und dass er wahrscheinlich nur noch dieses eine Mal hatte. Mit Anbruch der Frostzeit würde es vorüber sein. Und bis dahin waren es nur mehr wenige Tage.

Heute. Er musste es heute schaffen, oder er würde es niemals schaffen, die Sterne zu sehen.

Aber wie, wenn der Schwung nicht mehr funktionierte? Er glitt zurück in die Thermik, ließ sich wieder emportragen, versuchte es erneut. Diesmal ging es schon besser, oder zumindest weniger schlecht. Er musste beim Fallen eher mit den Treibschlägen beginnen, musste früher in die Abfangkurve übergehen und die Aufwärtsschläge weiter nach hinten durchziehen. Der dritte Versuch brachte ihn endlich über die ursprüngliche Höhe hinaus, wenn auch enttäuschend wenig. Er würde mindestens doppelt so viele Schwünge wie das letzte Mal brauchen, um den Himmel zu erreichen.

Nun, denn. Dann würde er eben doppelt so viele Schwünge machen.

Er begann. Schwung, Schwung, Pause. Schwung, Schwung, Pause. Die Routine kehrte zurück, die Konzentration stellte sich wieder ein. Es war wieder wie beim letzten Mal. Er würde es schaffen. Schwung, Schwung, Pause. Der Rhythmus des Aufstiegs, der ihn schon zweimal bis unter das Dach der Welt gebracht hatte.

Wieder versank die Welt hinter ihm, unter ihm. Wieder vergaß er alles, sogar Eiris, kannte nur noch die frostige Luft, den pfeifenden Wind in seinen Flügeln, das Keuchen seiner Lungen, den reißenden Schmerz in seinen Muskeln. Er stieg, und stieg, und stieg. Irgendwann verlosch das große Licht des Tages, und das kleine Licht der Nacht erschien. Das war ungewohnt, aber Eiris hatte ihn auf den Gedanken gebracht, dass er den Himmel ja nachts durchstoßen musste, wenn er die Sterne sehen wollte, denn das große Licht des Tages würde sie überstrahlen. Er hatte in den alten Büchern nachgelesen und gefunden, dass es sich auf den Welten, von denen die Ahnen stammten, in der Tat genau so verhalten hatte: Man hatte die Sterne nur nachts sehen können.

Der Himmel war eine graue, glimmende Glocke über ihm, das Meer ein schwarzer Abgrund unter ihm, und es war so still um ihn, als sei das Ende aller Zeiten gekommen. Doch Owen vollführte einen Schwung nach dem anderen, fiel, trieb, stieg auf und kletterte höher, unerbittlich, getrieben von einer Kraft, von der er nicht hätte sagen können, woher sie kam. Er schrie jetzt jedes Mal, wenn er den zum Zerreißen schmerzhaften tiefsten Punkt des Schwunges durchflog, aber es kam ihm gar nicht zu Bewusstsein, dass er schrie. Er merkte nicht, dass seine Flügel an den beiden Handschwingen eingerissen waren, und da es dunkel war, sah er auch das Blut nicht, das aus den Rissen quoll. Tränen rannen ihm über die Wangen, und er schmeckte sie nicht. Alles, was er sah, war der Himmel, dem er wieder näher kam, Spanne um Spanne, ein qualvoller Kampf, in dem jede Bewegung ihren Preis hatte. Doch, Hunger spürte er und Durst, aber er wagte es nicht, innezuhalten und etwas von seinem Proviant zu essen, weil er Angst hatte, er könnte danach nicht mehr die Kraft finden, weiterzumachen. Dies war kein sportliches Ringen mehr, dies war ein verzweifelter Kampf geworden zwischen ihm und dem Himmel, und es ging in mehr als einem Sinn um sein Leben. Owens Keuchen war zu einem Schluchzen geworden, aber er machte weiter und weiter, stieg und stieg. Er würde es schaffen. Er würde vielleicht sterben dabei, aber er würde es noch einmal schaffen, den Himmel zu erklimmen. Und dann würde er … Er konnte noch nicht daran denken, was er dann tun würde. Er musste alle Kraft in den nächsten Schwung legen, musste zum Pfeilfalken werden, musste den Schmerz ertragen und alles in den Aufschwung legen, was noch in ihm war.

Die Nacht nahm kein Ende. Aber auch seine Kraft und sein Schmerz nahmen kein Ende.

Irgendwann begriff er, dass er angekommen war. Das Firmament, die ewige Wolkendecke, hing im kleinen Licht der Nacht über ihm wie ein hungriges, lippenleckendes Maul, brauste und brodelte unheilverkündend im Dunkeln. Owen glitt darunter dahin, weinend vor Erschöpfung und zitternd von der Kälte, nicht von der Angst. Nein, nicht von der Angst.

»Hier bin ich wieder«, schrie er irgendwann, oder flüsterte er es nur? Er wusste es nicht. Das graue, schwere Himmelsgewölbe, unter dem er sich so winzig vorkam wie ein Insekt, hörte ihn sowieso nicht.

Da war irgendetwas gewesen, das er hatte tun wollen, wenn er hier angelangt war. Ach ja. Nach und nach fiel es ihm wieder ein, wie eine Erinnerung aus einer unsagbar lang zurückliegenden Zeit. Die Trage. Die Rakete. Owen griff nach dem Bündel an seinem Gürtel, und alles tat ihm weh dabei. Es war so weit. Jetzt würde er den Himmel durchstoßen.

Er richtete den Oberkörper auf, flügelschlagend, brachte die Rakete in eine geeignete Position. Er sank allmählich abwärts, konnte die Höhe nur mit Mühe halten. Er dachte an Eiris, wollte irgendetwas sagen, aber ihm fiel nichts ein, und er hatte keine Zeit nachzudenken, weil er Höhe verlor, und so riss er einfach die Feuerschnur.

Es war, als träte ihn der größte aller Hiibu-Böcke mit aller Gewalt in den Rücken, so gewaltig traf ihn der Schlag, als die Rakete losging. Er konnte gerade noch daran denken, die Flügel einzufalten, damit sie nicht nach hinten gerissen wurden und in den Feuerstrahl gerieten, aber seine Fersen verbrannte er sich trotz allem in dem dröhnenden, unglaublich heißen Schweif. Unwillkürlich schloss er die Augen, und als er begriff, dass er vorwärtsgeschleudert wurde, riss er sie wieder auf und sah nur helles, flockiges Grau um sich herum, wirbelnde Schatten und den Widerschein des Raketenstrahls, der brannte und brannte und gar kein Ende nehmen wollte. War das der Himmel? Durchstieß er die ewigen Wolken? Er wusste es nicht, und was immer mit ihm geschah, er hatte ohnehin keinen Einfluss mehr darauf.

Dann war plötzlich ohrenbetäubende Stille, und Dunkelheit, und Owen spürte, dass er sich immer noch bewegte, geradezu dahinschoss durch ein gestaltloses Nichts. Entsetzliche Enttäuschung griff nach seinem Herz. Es hatte nicht gereicht. Die Rakete war zu schwach gewesen, um ihn durch den Himmel auf die andere Seite zu stoßen.

Er spürte, dass ihm Tränen kamen, und es tat gut. Wenigstens hatte er es versucht, hatte getan, was menschenmöglich gewesen war. Nun, da alles vollbracht war, gab es ohnedies nichts mehr, was er darüber hinaus hätte tun können.

Doch plötzlich – wich das Grau, wich einer kühlen, erhabenen Dunkelheit …

Die Sterne. Owen sah sie, und der Anblick war großartiger, als er es sich jemals hätte vorstellen können. Tausende, Millionen von ihnen standen schweigend in klarer, endloser Schwärze, in Pracht und Herrlichkeit. Ihre herzzermalmende Majestät kündete von unfassbarer Weite und Größe, größer als alles, was Menschen in ihrer Welt kannten und kennen konnten. Mit Tränen in den Augen glitt Owen unter den Sternen dahin, in einem lautlosen Bogen über der grauen See ewiger Wolken, doch es waren Tränen unsagbarer Freude und Dankbarkeit, Tränen der Erfüllung, und er wusste, dass er sein Leben gewagt und gewonnen hatte in diesem Augenblick.

Lange dauerte er, Owens Flug unter den Sternen, oder vielleicht auch nicht, und es kam ihm nur so vor. Er breitete seine Flügel aus, weil er länger bleiben wollte, doch sie trugen nicht hier oben, und als die Wolken wieder nach ihm griffen und die Welt, faltete er sie zurück für den Sturz durch das Toben der Gewalten. Und als ihn das Weltendach endlich ausspie in den Luftraum, in dem er zu Hause war, riss er sich die Trage mit der leergebrannten Rakete vom Rücken und ließ sie in die Tiefe fallen, und so befreit und leicht breitete er die schmerzenden Flügel aus zu einem schlichten, ruhigen Gleitflug, der ihn nach Hause bringen würde, sofern er die richtige Richtung eingeschlagen hatte, oder jedenfalls zurück auf den Boden.

Er wusste nun, was er Eiris erzählen würde. »Die Sterne«, würde er ihr sagen, »sind nicht nur der Ort, von dem wir kommen.« Ihren Kindern würde er es ebenfalls sagen, und jedem, der es hören wollte. »Sie sind auch der Ort, zu dem wir einst zurückkehren müssen.«

Doch dann wurde ihm schwarz vor Augen. Er merkte noch, dass er zu stürzen begann, hinab in die grundlose Tiefe, dann wusste er nichts mehr.


Lesen Sie weiter in:

"Eines Menschen Flügel"
Roman von Andreas Eschbach
Bastei-Lübbe, Köln
ISBN 978-3-7857-2702-7
Erscheint am 30. 9. 2020