Die Abschaffung des Todes

Roman
von
Andreas Eschbach


Die teuerste Tageszeitung der Welt heißt »The Windover View«, und höchstwahrscheinlich haben Sie noch nie von ihr gehört.

Alles andere wäre höchst verwunderlich, denn diese Zeitung hat nur 49 Abonnenten, die jeweils eine Million Euro im Jahr bezahlen für das Privileg, jeden Morgen zu erhalten, was sie nirgendwo sonst bekommen: einen nüchternen, leidenschaftslosen und einzigartig präzisen Überblick über den Zustand der Welt. Diese Zeitung bringt keine sensationsverheißenden Schlagzeilen, keine Nachrichten über Mord und Totschlag und keine Berichte über sogenannte Prominente und ihre Eskapaden. Sie finden darin keine Kreuzworträtsel, keine Comics, kein Tageshoroskop, rein gar nichts, was der Unterhaltung dient. Kein Sportteil, keine Leserbriefe, keine Kleinanzeigen –
überhaupt keine Anzeigen. Nur Fakten, auf den Punkt gebracht mit sorgfältig ermittelten Zahlen und straffen, schnörkellosen Analysen. Schon nach der Lektüre der Titelseite haben Sie ein klares, wenn auch grobes Bild dessen, was in der Welt gerade vor sich geht. Sie sehen, wo sich Entwicklungen anbahnen und welche Trends morgen oder übermorgen wichtig werden. Bei den Themen, die Sie interessieren, können Sie weiter in die Tiefe gehen zu noch mehr und detaillierteren Informationen, zu feiner aufgeschlüsselten Zahlen und Statistiken, veranschaulicht in Grafiken, deren Optik mit Bedacht so gewählt ist, dass kein falscher Eindruck entstehen kann.

Mein Name ist übrigens James Henry Windover. Ich bin, wie Sie sich jetzt vermutlich schon denken können, der Gründer und Chefredakteur dieser Zeitung.

Wir sind ein reines Informationsmedium. Wir versuchen nie, Ihnen zu sagen, was Sie denken oder was Sie von dem, was wir berichten, halten sollen. Wir dokumentieren nur, so korrekt und objektiv wie möglich und unabhängig davon, ob das, was passiert, uns persönlich gefällt oder nicht. Wir schildern, was sich auf der Welt an Wesentlichem ereignet, legen dar, welche Hintergründe wie plausibel sind und welche Gefahren drohen. Und dann überlassen wir es unseren Leserinnen und Lesern, sich ihre eigene Meinung zu bilden.

Streng genommen sind wir keine Zeitung im klassischen Sinne, denn es gab noch nie eine gedruckte Fassung des »Windover View«, und es wird auch nie eine geben. Stattdessen hat jeder Abonnent einen speziellen Tablet-Computer, auf dem morgens um 6 Uhr mitteleuropäischer Zeit die aktuelle Ausgabe erscheint. Sie kommt per Internet, verschlüsselt und überdies personalisiert, was bedeutet, dass die Reihenfolge der Themen sich nach den Interessen des betreffenden Abonnenten richtet, wie er sie bei uns hinterlegt hat: Angaben, die wir selbstverständlich hüten wie unsere Augäpfel.

Und – ja, der Name der Zeitung ist ein Wortspiel. Keineswegs bedeutet er jedoch, dass es um
meine Sicht auf die Welt geht. Im Gegenteil: Mich um äußerste Neutralität zu bemühen ist meine oberste und heiligste Maxime. Höchstmögliche Objektivität ist der Raison d’être unserer Publikation.

Falls Sie jetzt denken sollten, ›oh, das interessiert mich, und eine Million pro Jahr wäre mir das wert, wo kann ich abonnieren?‹, muss ich Sie enttäuschen: Nirgends. Es handelt sich bei unserer Leserschaft um einen äußerst exklusiven Club, dem man nur mit der Empfehlung eines Mitglieds beitreten kann und auch nur, wenn keiner der bisherigen Abonnenten Einwände erhebt. Was durchaus schon vorgekommen ist.

Wie aber passt nun dazu ein Buch wie das vorliegende? Eine berechtigte Frage. Aus dem, was ich über das Konzept unserer Zeitung angedeutet habe, schlussfolgern Sie zweifellos, dass wir gewöhnlich eher die kurze Form pflegen. Aussagekräftige Überschriften, die sich auf ein Antippen hin zu knappen Abhandlungen erweitern, in denen man dort, wo es einen interessiert, weiter in die Details gehen kann, zu Erklärungen, Grafiken, Zahlen: So sieht ein typischer Artikel der »Windover View« aus.

Doch ab und zu ereignen sich Dinge, die zu schildern einer anderen Textform bedürfen, und dies ist so ein Fall. Ich habe eine Geschichte zu erzählen, die zu lang ist, um sie in meiner Zeitung unterzubringen, und zu wichtig, als dass ich sie dem Rest der Welt vorenthalten dürfte – deswegen war es nötig, ein Buch zu schreiben.

Wozu brauchen wir Nachrichten? Wir brauchen sie, weil wir wissen wollen, was von dem, was in der Welt vor sich geht, uns betreffen oder gar gefährden könnte. Wir brauchen sie, weil das Leben inhärent unsicher ist und im Prinzip jedes einzelne Lebewesen an jedem einzelnen Tag darum kämpft, ihn nicht zu seinem Todestag werden zu lassen.

Sicherheit, das lernen wir früh, ist eine Illusion.

Die einzige Sicherheit ist die, dass jeder von uns eines Tages sterben wird.

Doch selbst diese Gewissheit könnte ins Wanken geraten. Es gibt Menschen, die daran rütteln.

Und genau darum wird es im Folgenden gehen.

***


Auf Anraten unseres Firmenanwalts werde ich absichtlich vage bleiben, was den Zeitrahmen der nachfolgend zu schildernden Ereignisse anbelangt. Auch habe ich etliche Namen verändert und mir hinsichtlich der Schauplätze gewisse Freiheiten erlaubt. Es ist mir schwergefallen, das zu tun, denn ich bin, was unsere Zeitung anbelangt, stolz auf die Präzision unserer Angaben und Zahlen. Unser Rechtsbeistand hat mich jedoch davon überzeugt, dass es so für alle besser ist.

Am besten, Sie lesen dieses Buch, als sei es ein Roman.



Ab 30. August 2024:
"Die Abschaffung des Todes"
Roman von Andreas Eschbach
Bastei-Lübbe, Köln
ISBN 978-3-7577-0051-5




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